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LG Berlin, NJW 2005, 1811 (nicht rechtskräftig):

1. Bei der Pflicht zur angemessenen Personalausstattung der Gerichte handelt es sich um eine Amtspflicht i.S. des § 839 BGB.

2. Ein Land verletzt diese Amtspflicht dann, wenn es über Jahre hinweg eine bedeutsame Zahl von Planstellen für Rechtspfleger nicht besetzt.

3. Kommt es durch diese Nichtbesetzung der Planstellen (hier: rund 25% Unterdeckung) zur verspäteten Bearbeitung von Kostenfestsetzungsanträgen von Rechtsanwälten, und können diese Beschlüsse daher auf Grund einer Vorpfändung nicht wirksam vollstreckt werden, so haftet der Staat (hier: das Land Berlin) für den Schaden. (Leitsätze der Redaktion)

LG Berlin, Urt. v. 12.05.2005 - 13 O 20/04

Sachverhalt:

Der Kl. macht gegen den Bekl. Amtshaftungsansprüche wegen Verzögerung der Erstellung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses bei dem AG Schöneberg geltend. Am 01.11.2002 betrug der anerkannte Bedarf des AG Schöneberg an Rechtspflegern 68,91 Stellen, von denen 51,89 besetzt waren. Diese Unterbesetzung umfasst zwei Vollzeitstellen, deren Nichtbesetzung nach der von dem Bekl. vorgebrachten Auffassung nicht steuerbar war, unter anderem weil eine Teilzeitkraft hätte versetzt werden müssen. Der Durchschnitt der Personalunterdeckung an Rechtspflegern bei den Berliner Amtsgerichten betrug 23%. Die Schreibkanzlei des AG meldete am 10.01.2003 insgesamt 1767 Reste, die in der Zeit bis zum 02.04.2003 auf 4593 anstiegen.

Nachdem der Kl. gegen einen Mandanten eine Honorarforderung durch Versäumnisurteil des AG Schöneberg vom 20.09.2002 tituliert hatte, beantragte er am 31.10.2002 dem Bekl. gegenüber, Kosten in Höhe von 438,50 Euro festzusetzen. Der Kostenfestsetzungsbeschluss erging am 24.01.2003 und wurde dem Kl. nach dessen Erinnerung vom 27.02.2003 und dem Hinweis auf die besondere Eilbedürftigkeit vom 02.04.2003 am 16.04.2003 zugestellt. Zwischenzeitlich war im Rahmen der Zwangsvollstreckung des Versäumnisurteils am 14.03.2003 ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss bezüglich einer Lebensversicherung des Mandanten zugestellt worden, der in der Folgezeit auch zur Befriedigung des Kl. bezüglich seines Honoraranspruchs führte. Der Kl. beantragte am 23.04.2003 im Rahmen der Vollstreckung des Kostenfestsetzungsbeschlusses einen weiteren Pfändungs- und Überweisungsbeschluss bezüglich der Ansprüche gegen die Lebensversicherung des Mandanten. Diese teilte nach Zustellung des Beschlusses im Juni 2003 mit, dass in der Zwischenzeit unter anderem eine Pfändung des Finanzamts Oranienburg in die Versicherungssumme deutlich übersteigender Höhe am 14.04.2003 zugestellt worden sei.

Der Präsident des AG wies die Schadensersatzforderung des Kl. zurück. Mit der Klage fordert der Kl. den Ersatz des Schadens, der aus dem verzögerten Erlass des Kostenfestsetzungsbeschlusses entstanden ist, der neben dem Erstattungsbetrag aus diesem Beschluss Gerichtsvollzieherkosten für die Zustellungen von vorläufigem Zahlungsverbot und Pfändungs- und Überweisungsbeschluss sowie von Kosten von Grundbuchauszügen umfasst, die er, veranlasst durch den Präsidenten des AG, beantragt hat.

Die Klage auf Zahlung von 569,60 Euro nebst Zinsen hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

Die Klage ist gem. § 839 BGB i.V. mit Art. 34 GG begründet. Die Bediensteten des Bekl. haben dem Kl. gegenüber bestehende Amtspflichten dadurch verletzt, dass sie das AG Schöneberg nicht in dem erforderlichen Umfang mit Personal ausgestattet haben.

Es gehört zu den Pflichten der Amtsträger eines Landes, eine funktionsfähige Rechtspflege zu gewährleisten. Hierzu gehört auch eine angemessene Personalausstattung der Gerichte (BVerfG, NJW 2000, 797). Dass vorliegend diese Pflicht verletzt wurde, steht außer Zweifel. Der Bekl. hat selbst vorgetragen, dass in dem fraglichen Zeitraum von November 2002 bis Ende Januar 2003 im Bereich der Rechtspfleger bei dem AG Schöneberg der von der Senatsverwaltung anerkannte Bedarf zu mehr als 25% nicht gedeckt war. Von den als Soll anerkannten 68,91 Stellen waren 51,89 nicht besetzt worden. Dass der anerkannte Rechtspflegerbedarf den verwaltungstechnisch zu begründeten Bedarf überstieg und die anfallenden Aufgaben auch mit den vorhandenen Personen sachgerecht zu erfüllen waren, ist auch von dem Bekl. nicht behauptet worden. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Senatsverwaltung nur den Bedarf anerkennt, der auch dringend besteht. Auch bei den Schreibkräften bestand eine nicht bedarfsgerechte Personalausstattung. Dies zeigt das Anwachsen der Kanzleireste von Januar bis April 2003 von etwa 1700 auf fast 4600. Dass diese Entwicklung auf andere als personelle Gründe zurückzuführen ist, ist nicht vorgetragen oder sonst erkennbar.

Bei der Pflicht zur angemessenen Personalausstattung der Gerichte handelt es sich auch um eine Amtspflicht, die i.S. von § 839 BGB dem Kl. gegenüber bestand. Amtspflichten begründen Ansprüche konkreter Personen, wenn sie sich nicht nur darin erschöpfen, dem Allgemeininteresse zu dienen, sondern zwischen den Amtspflichten und den Personen schon besondere Beziehungen bestehen (BVerfG, NJW 1989, 101). Die Amtspflicht zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Justiz besteht nicht nur im Allgemeininteresse. Vielmehr dient sie im Bereich der Ziviljustiz dem Schutz aller Parteien, die zur Durchsetzung oder Verteidigung ihrer Rechte auf die Gerichte angewiesen sind. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsordnung der Bundesrepublik von dem Gewaltmonopol des Staates ausgeht, das ausschließt, dass Bürger ihre Rechte auf eigene Faust durchsetzen. Der Kl. war auch in eine besondere Beziehung zu den im Anwendungsbereich der genannten Amtspflicht liegenden Gerichten getreten, weil er sein Kostenfestsetzungsgesuch bei dem AG Schöneberg eingereicht hat.

Die Bediensteten des Bekl. haben die Pflicht auch schuldhaft, zumindest fahrlässig, verletzt. Die Entstehung der Personalunterdeckung war voraussehbar und vermeidbar. Dabei kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen eine Personalunterdeckung nicht voraussehbar ist und in welchem Umfang der Dienstherr bereits für die im Einzelfall nicht, wohl aber in ihrer statistischen Regelmäßigkeit voraussehbaren - etwa durch Krankheit oder Schwangerschaft entstehenden - Personalausfälle Vorkehrungen zu treffen hat. Der Bekl. hat Ursachen für die Unterbesetzung bei den Rechtspflegern, die er als nicht steuerbar bezeichnet, nur in Bezug auf insgesamt zwei Vollstellen vorgetragen. Ob diese Einordnung zutrifft - was insbesondere bezüglich einer von dem Bekl. vorgenommenen ersatzlosen Versetzung einer Teilzeitkraft an ein anderes Gericht zweifelhaft erscheint - kann dahinstehen, weil der Bekl. im fraglichen Zeitraum insgesamt mehr als 17 Rechtspflegerstellen unbesetzt gelassen hat und nicht erkennbar ist, dass die Verzögerung ausschließlich auf den Verlust in den als nicht steuerbar bezeichneten Fällen zurückzuführen ist.

Dem Kl. ist durch die unzureichende Personalausstattung des AG Schöneberg der geltend gemachte Schaden entstanden. Wäre das AG mit den erforderlichen Rechtspflegern und Schreibkräften ausgestattet gewesen, wäre der Kostenfestsetzungsbeschluss so frühzeitig erlassen worden, dass der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss noch zu einem Zeitpunkt hätte zugestellt werden können, in dem die Forderung des Mandanten gegen seine Lebensversicherung noch eine vollständige Befriedigung des Kl. ermöglicht hätte.

Dem Kl. standen anderweitige Ersatzmöglichkeiten i.S. des § 839 BGB nicht zur Verfügung. Soweit an eine Inanspruchnahme des Mandanten und seines Geschäftspartners zu denken war, ist während des Verfahrens unstreitig geworden, dass diese vermögenslos sind bzw. ihr Vermögen wegen des Bestehens von Belastungen für eine Zwangsvollstreckung des Kl. wertlos ist.

Der Anspruch des Kl. ist nicht wegen Mitverschuldens i.S. von § 254 I BGB zu mindern. Der Kl. hat mit Schreiben vom 27.02. und 02.04.2003 an die Entscheidung über seinen Kostenfestsetzungsantrag erinnert. Weitere Maßnahmen oblagen ihm nicht, weil ein Rechtsuchender eigentlich davon ausgehen kann, dass staatliche Institutionen ihre Aufgaben pflichtgemäß erfüllen.