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Vom Musenhof zum
Gerichtsgebäude
Ein Besuch des Seegerichtshofes

Der Vorsitzenden des Hamburgischen Richtervereins ist es – noch vor Einzug des Gerichts – gelungen eine Besichtigung des Internationalen Seegerichtshofs zu organisieren. Eine eindrucksvolle Visite. Dem Bericht darüber möchte ich einige Anmerkungen zur Geschichte des Grundstücks voranstellen:

Auf einem Grundstück von 36.503 m2 an Elbchaussee und Georg-Bonne-Straße mit altem Baumbestand und Elbblick stand bis Mai 1997 in splendid isolation die "Villa Schröder", ein Landhaus, das der Bankier Frensdorf Anfang der Siebziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts errichten ließ. Frensdorf war Teilhaber des Hamburger Bankhauses L. Behrens & Söhne. Er hatte den Landsitz 1870 erworben und ließ 1887 das alte Vidalsche Landhaus für den Neubau der jetzigen Villa abbrechen.

Die Familie des Kaufmanns Charles Louis Vidals Familie stammt aus der Languedoc und hatte es in Hamburg zu Ansehen gebracht. 1796 erwarb Charles Louis Vidal den Nienstedtener Landsitz. Hier bildete sich rasch ein Sammelpunkt zahlreicher Gäste. Ein Kupferstich von I809 zeigt das damalige Anwesen mit einem schlichten, zum Teil zweigeschossigen strohgedeckten Haus in unregelmäßiger, aber gefällig gegliederter Form mit einer einfachen Attika über dem Eingang. Das Haus ist umgeben einer Wiese, auf der von einem Hirten und seinem Hund bewachte Kühe weiden. Der das Bild in den "Gemeinnützigen Unterhaltungsblättern" begleitende Text schreibt dazu:

"Ohne eine prunkende Antlitzseite zur Schau zu stellen – wobei oft der Charakter des Einfachländlichen einer unpassenden Pracht aufgeopfert wird -, vereinigt es bei einiger architektonischer Unregelmäßigkeit die höchste Bequemlichkeit mit einer anspruchslosen Eleganz, und aus seinen Umgebungen spricht den Beschauer der zauberische Reiz einer schönen ländlichen Natur warm und lebendig an. Der Besitzer versammelt hier zuweilen musikalische Gesellschaften, und dann verschmelzen in einer schönen Lenznacht die zarten Töne der Musik mit dem Gesange der Nachtigallen und dem feierlichen Rauschen in den Wipfeln der nahen mächtigen Eichen". Vidal starb 1809. Seine Witwe mußte in Folge des wirtschaftlichen Niedergangs durch die Kontinentalsperre das Haus vermieten. Als Mieter gewann sie den englischen Konsul Joseph Charles Mellish (1768-1823), von dem es hieß "Seine gastliche Villa zu Nienstedten war ein Sammelplatz für die gebildete Welt aus allen Ländern". In seiner Zeit als preußischer Kammerherr in Weimar hatte er viel im Hause Goethes verkehrt, der ihm das Gedicht "An Freund Mellish" zueignete. Mellish selbst dichtete in deutscher Sprache und übersetzte die Werke deutscher Schriftsteller in seine Muttersprache. Mellish starb 1820 in London während einer Reise.

Ihm folgte in der Reihe der Bewohner des Hauses Jacob Oppenheimer, vermögender Finanzmann, der 1812 zu der Gesandtschaft Hamburgs nach Dresden bei den Verhandlungen mit Napoleon über eine Ermäßigung der Hamburg auferlegten Geldbuße gehörte. Oppenheimer erweiterte das nach wie vor strohgedeckte Haus um einen Flügel. Nach weiteren Eigentumswechseln kam das Grundstück schließlich an den erwähnten Frensdorf.

Frensdorfs Bau, dessen Grundanlagen wir heute noch vor uns sehen, hat nicht mehr die klaren geometrischen Formen, aus denen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der Architekt C.F. Hansen mit den Traditionen brach und den neuen Stil der Landhauskultur an der Elbe schuf, die wir uns als Rahmen der gesellschaftlichen Blüte jener Zeit denken. Nein, Frensdorfs Villa könnte auch im Grunewald stehen. Sie atmet nicht mehr jenen Geist Rousseaus, den die "Gemeinnützlichen Unterhaltungsblätter" beschreiben.

1887 erwarb der Kaufmann Rudolf Freiherr von Schröder den Landsitz. Er ließ das Haus durch den Rathausarchitekten Martin Haller mit einem Dachaufbau versehen. Nach Paul Th. Hoffmann stammt aus der Schröderschen Zeit ein Tunnel, der es erlaubte, unter der Elbchaussee hindurch zum damaligen Gartenvorland am Elbstrand zu gehen. Das Südtor soll im Kriege als Bunker benutzt worden sein, dessen verrostete Tür jedenfalls 1977 noch am Elbuferwanderweg zu sehen war. Interessierte sollten heute einmal danach Ausschau halten.....

Das Anwesen wurde 1939 vom "Luftgaukommando X" genutzt und 1945 von der Royal Air Force in Besitz genommen. Nächster Eigentümer wurde die Oberfinanzdirektion Hamburg. Die Gebäude nahmen Flüchtlinge und Bombengeschädigte auf. Das große Haus war umgeben von einem Dorf von Baracken und Häuschen. Der Garten verwilderte.

Aus diesem Dornröschenschlaf weckten den ehemaligen Landsitz im Mai 1997 die Bauarbeiten zum Internationalen Seegerichtshof. Die Villa Schröder wurde komplett entkernt, nur die Fassade blieb stehen. Wie zu Zeiten ihrer militärischen Nutzung wird sie als Kasino dienen. Erschlagen von einer gewaltigen Edelstahltheke, umgeben von schreiend bunten, stakeligen Stühlen blickt man über eine vasarely-gemusterte Granitterrasse mit schon vertrocknenden Buchsbaumkugeln über eine triste, von Baufahrzeugen malträtierte Grasfläche, die nur durch frisch gepflanzte aber leidend aussehene Rhododendren unter den jahrhundertealten Bäumen aufgelockert wird, auf die Elbe.

Soweit die Realität der Schröderschen Villa, in der man mit viel Aufwand Stuck, Fenster, Türen und Fußbodenfliesen hat nachkonstruieren oder restaurieren lassen. Nichts davon nimmt der unbefangene Besucher wahr angesichts der schreienden Moderne, die aufdringlich ins Auge springt. Wie heißt es doch in dem Prospekt des Finanzbauamtes Hamburg:

"Wie für den Park, so stellt die Villa Schröder auch für die Anordnung des Neubaus das Zentrum dar. Ihre Architektur und die sie umgebende Natur treten in Dialog und verschmelzen zu einer Einheit. Aus der Wechselwirkung von Gebäuden und Natur, von Körper und Raum, innen und außen, umschlossenen und umschließenden Körpern, entwickelt sich die Grundaussage des Gebäudekonzeptes." Ach so! Sobald man es weiß, erkennt man es unschwer.......

Die Villa Schröder erreicht man vom gigantischen Neubau durch eine Art U-Bahnschacht, in dem sich eine Cafeteria befindet. Man kann den Mitarbeitern nur wünschen, daß sie es fertigbringen, auf den eigenartige geformten Sitzmöbeln eine ruhige Pause zu verleben.

Dieser Neubau – nach Norden in zwei geraden Schenkeln verlaufend und nach Süden halbkreisförmig die Villa Schröder umfassend – hat viel Geld gekostet. Man sieht es sofort. Es springt den Betrachter sozusagen an. Vom Glasfußboden der Übergänge über die Türdrücker und die gerundete innere Wandverkleidung bis zu den TreppenWangen aus gebogenem Glas oder der kühnen Idee, nicht die Fenster zum Öffnen zu gestalten, sondern die dazwischen liegenden Wandteile - kein Detail, das nicht eine Sonderanfertigung für das aus einem gedanklichen Guß entworfene Gebäude wäre.

Nun denn, es ist ein Bauwerk aus Stahl, Glas und Granit, dessen Unverwechselbarkeit sich nicht sofort erschließt. Man meint, es könne statt in Hamburg auch in Shanghai stehen, nur daß man dort die Lehren des Feng Shui beachtet hätte, um die kosmische Energie des Chi für das Gedeihen des Unternehmens zu nutzen.

Dies ist natürlich laienhaft betrachtet. Richtig gewürdigt, hat das Gebäude einen "unverwechselbaren Bezug zum Ort", sagt das Konzept der Architekten Alexander Freiherr von Branca und Emanuela Branca aus München:

"So hat der formale Grundgedanke des Neubaus, die Thematisierung der Gegensätzlichkeit von strengem linearen und geschwungenem Baukörper ihren Ursprung in der Gestalt der Villa. Auch sie besitzt zwei Gesichter. Das der Elbe zugewandte sowie das ihr abgewandte, die jeweils architektonisch vollkommen ausgebildet sind und trotzdem zu einer Einheit verschmelzen..............Das nun der Elbe und der Villa zugewandte Gesicht des Neubaus ist ein transparent und leicht gestalteter Rahmen, der sich um die Villa Schröder legt. Er würdigt somit nicht nur ihre Eigenständigkeit und Bedeutung, sondern verstärkt diese auch.

Als Pendant zur Villa setzt sich der große Sitzungssaal als geistiger und funktionaler Mittelpunkt des Neubaus baulich vom geschwungenen Baukörper ab und öffnet sich zur Elbe".

Bei dieser Öffnung muß es sich um einen geistigen Vorgang handeln – man sieht nichts von der Elbe, was natürlich auch seinen Vorteil hat, da dann nichts ablenkt vom Geschehen im Saal. Gefangen ist der Besucher ohnehin mehr von der modernen Kommunikationstechnik, die jedem der 21 am 18. Oktober 1996 im Hamburger Rathaus vereidigten Richter an seinem Platz im Sitzungssaal einen High-Tech–Flachbild-Computer beschert, um nicht nur an den großen Bildwänden die Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch noch individuell verfolgen zu können. Zwölf technisch hoch ausgestattete Dolmetscherkabinen lösen das babylonische Problem.

Diese Ausstattung legt natürlich die Frage nahe, ob der Saal und dazu der großzügige Empfangsbereich nicht auch anderen Zwecken als den seltenen Sitzungen des Seegerichtshofes dienen könnte. Für internationale Tagungen, für die die erforderliche Technik sonst anderorts in Hamburg erst installiert werden muß, wäre eine Vereinbarung über die Nutzung ein Segen und im übrigen auch ein kleines Äquivalent für die immensen Aufwendungen der Stadt und des Bundes für dieses Gebäude.

Der weitere Rundgang führte die Besucher in den Verwaltungstrakt, in dem sich die Büros und auch ein Konferenzsaal mit der für Videokonferenzen erforderlichen Ausstattung befinden. Groß aber karg sind die Zimmer des Präsidenten und des Kanzlers – auch hier durchgestylte moderne Innenarchitektur. Wie wird es aussehen, wenn Dr. Thomas A. Mensah aus Ghana als erster Präsident des Gerichtshofes und sein Kanzler, Gritakumar E. Chitty aus Sri Lanka ihre persönlichen Dinge in dieses Styling räumen. Jeder persönliche Gegenstand kann hier nur stören. Wird es mit den Richterzimmern so gehen wie bei unseren modernen Geschäftsstellen, bei denen alle wohlgemeinte, farblich abgestimmte Einrichtung nach kurzer Zeit unter dem Chaos alter Kugelschreiber, Zetteln, Formularen, vergessenen Regenschirmen, alten Turnschuhen, Familienbildern, Komikfiguren, Aufklebern mit dem Hinweis "Moorhuhnfreie Zone", Gummibändern, Asservaten und Akten untergeht? (Nebenbei: Haben die Innenarchitekten auch die Farbe der Aktendeckel des Seegerichtshofes bedacht und angepaßt?)

Nein ein solches Chaos wie bei ordentlichen Gerichten wird sich sicher nicht ausbreiten bei diesem würdigen Gerichtshof, dessen Richter zu den wenigen Fällen jeweils anreisen und kaum Zeit haben werden, in den ihnen zugelosten Zimmer heimisch zu werden. Nur Präsident und Kanzler werden ständig in Hamburg sein, gut abgeschirmt und gesichert durch einen hocheffektiven Sicherheitsdienst, der auch unsere Visite begleitete und ausscherende Schäfchen freundlich aber bestimmt sofort zurückholte. Aus Togo, jenem kleinen schmalen Land im Westen Afrikas sei er, sagte der Sicherheitsmann mit der Figur eines Sylvester Stallone, und er sei sehr gerne in Hamburg.

Der Seegerichtshof hat seine Arbeit im November 1997 aufgenommen – noch in seinem vorläufigen Domizil. Die Verhandlungen finden im Hamburger Rathaus statt. Bis Juni 2000 bearbeite der Gerichtshof fünf Fälle. Die erste Klage wurde am 13. November 1997 durch St. Vincent und die Grenadinen eingereicht. Sie verlangten die sofortige Freigabe des MS "Saiga", das vor der westafrikanischen Küste beschlagnahmt worden war. Mit Urteil vom 4. Dezember 1997 ordnete der Gerichtshof die sofortige Freigabe des Schiffes nach Hinterlegung einer Sicherheitsleistung, bestehend aus der Gasölladung und einer Kaution von 400.000 US-Dollar an. Guinea kam dem Urteilsspruch am 4. März 1998 durch Freigabe des Schiffes und seiner Besatzung nach.

Auch die nächsten beiden Fälle betrafen den Streit um dieses Schiff mit Guinea:

Am 30. Juli 1999 beantragten Neuseeland und Australien die Anordnung vorläufiger Maßnahmen gegen Japan zum Schutz des Südlichen Blauflossenthunfisches. Der Gerichtshof ordnete u.a. an, daß die Parteien sich an die jährlichen Fangquoten zu halten haben.

Der bisher letzte Fall wurde durch Klage vom 17. Januar 2000 eingeleitet. Panama verlangte die sofortige Freigabe des Schiffes MS "Camouco" und seines Kapitäns, die von einer französischen Fregatte in den Gewässern der Crozet-Inseln (Französisches Südsee- und Antarktisgebiet) angehalten und auf der Insel Réunion festgehalten wurden. Frankreich wurde zur Freigabe gegen eine Kaution von FF 8.000.000 verurteilt.

Man sieht, Hamburg gewinnt als Sitz des Seegerichtshofes noch einmal an internationalen maritimen Flair dazu. Bei aller Kritik, insbesondere bezüglich der Einbeziehung und Herrichtung der Schröderschen Villa, muß man anerkennen, daß das Gebäude des Seegerichtshofes ein respaktables Stück moderner Architektur geworden ist.

Vielleicht geht mit der Zeit ein wenig vom Geist des alten Landhauses und der Vidalschen Zeit auf diejenigen über, die dort arbeiten und verhandeln. Ob allerdings je wieder in einer schönen Lenznacht die zarten Töne der Musik mit dem Gesange der Nachtigallen und dem feierlichen Rauschen in den Wipfeln der nahen mächtigen Eichen zu hören sein werden, darf bezweifelt werden. Eine Chance gibt es aber: Die Expansion des Hamburger Juristenorchesters auf das Personal des Seegerichtshofes und ein Konzert im Innenhof.............

Übrigens: Informationen über den Seegerichtshof erhalten sie über das Internet unter

http://www.un.org/Depts/los/

Karin Wiedemann