(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/01) < home RiV >
Die schleichende Einschränkung von Art.97 GG durch die normative Kraft der EDV
oder: Mein ist dein
I.

Der Sachverhalt:

Seit dem 1.1.1999 arbeiten die Richter des Insolvenzgerichtes Hamburg mit einem im Auftrages des Bundeslandes NRW entwickelten Softwaresystems mit dem Namen "IT-InsO". Entwickler ist die Fa. Dahm aus NRW. Das System stellt den Rechtsanwendern über 100 Formulare mit Textbausteinen für alle möglichen Verfahrenssituationen zur Verfügung, darunter auch Beschlußentwürfe, Anschreiben an externe Stellen und Verfahrensbeteiligte. Durch die richterliche Abarbeitung des Formulars am PC werden "im Hintergrund" zugleich die Anschreiben und Ausfertigungen "erstellt", die die Geschäftstellen dann ausdrucken und absenden können. Soweit vereinfacht der Ablauf.

Der Vorteil liegt in der gleichzeitigen Fertigstellung gerichtlicher "Produkte" (Neusprech für Rechtsanwendung) mit Rubrizierung bzw. Anschriftenerstellung für eine Vielzahl von Adressaten. Der Nachteil im informellen "Zwang" der Abwicklung von Verfügungen und Beschlüssen mittels des PC und Abwälzung von Schreibarbeit auf die richterliche bzw. rechtspflegerische Ebene. Mit anderen Worten: Was früher der "Formularzettelkasten" des Rectsanwenders war, ist heute die Software mit ihren Textbausteinen und Verfügungsformularen.

Ein weiterer Nachteil liegt – insbesondere im Eilgeschäft des Insolvenzverfahrens – darin, daß der gerichtliche Betrieb bei Störungen des Computersystems augenblicklich zum Erliegen kommt. Hier besteht insbesondere Abhängigkeit vom Funktionieren des LIT (Landesamt für Informationstechnik) und seiner Server.

Der dritte Nachteil liegt darin, daß die Fa. Dahm als Herstellerin und "Pflegerin" des Programms generelle Ablauf- oder Gestaltungsänderungswünsche des Nutzers "FH Hamburg" nicht ausführt, da dies nur nach Genehmigung des "Nutzerinnenverbundes" aller Bundesländer, die mit IT-InsO arbeiten, erfolgt. Da Hamburg offenbar nur wenig Geld für das Programm bezahlt haben soll, jedenfalls wird dies so übereinstimmend kolportiert, hat Hamburg praktisch zur Programmgestaltung nichts zu melden. Lediglich kleinere Änderungswünsche können von den Anwenderbetreuerinnen vor Ort – als sog. Hamburger Änderungen – durchgeführt werden.

Ohne genauere Kenntnis dieser Zusammenhänge ( und ohne Vorführung der Abläufe) wurde der Einführung der Software vom Hamburger Richterrat im Jahre 1998 zugestimmt.

Es versteht sich für den erfahrenen Rechtsanwender von selbst, daß in der Gestaltung von verfahrensleitenden Formularen und Verfügungen zahlreiche Rechtsfragen "versteckt" sind, welche jeweils durch bestimmte "Verfügungsweisen" und Textbausteine im Wege einer "Weichenstellung" das Verfahren und damit die richterliche Rechtsanwendung beeinflussen (Beispiele: Fingierung einer Erledigungszustimmung, Art und Weise einer Unzuständigkeitsverweisung, Textbausteine zur Zulässigkeit des Antrages, zur Abweisung eines Antrages, zum Inhalt eines Sachverständigenauftrages, u.a.). Insofern war die mangelhafte Abstimmungsmöglichkeit mit den "Erstellern" der Software und der richtungsweisenden Arbeitsgruppe in NRW, an der dort auch dortige Richter teilnahmen, von Anfang an mißlich, da die Hamburger richterliche Ebene nicht eingebunden worden war. Folge waren zahlreiche Reibungsverluste durch Abänderungen der "vorgegebenen" Formulare, soweit dies überhaupt auf "Hamburger Ebene" möglich war. Jedenfalls ließen sich bestimmte formularisierte Grundabläufe, die in Hamburg für unsinnig erachtet wurden, nicht ändern.

Die Abarbeitung der Formulare am PC gliedert sich – grob beschrieben – in die Arbeitsschritte "Eingabe des Aktenzeichens", "Aufruf des passenden Vordruckes", "Durchgehen und ggfs. Verändern der angebotenen Textbausteine bzw. An- oder Ausschalten angebotener Textbausteine", "Aktualisieren des Formulars", "Ausdrucken des Formulars", "Signieren des Formulars (Speichern)". Je nach Länge und Vielzahl der im Formular enthaltenen "Schritte" dauern die Arbeitsschritte "Aktualisieren " und "Signieren" zwischen 20 Sekunden und 90 Sekunden. Währendessen kann der Rechtsanwender nichts anderes (vernünftig) "anpacken".

Ungefähr Anfang Januar 2001 lag in Hamburg die seit längerem angekündigte "Up-date-Version" der Software vor. Diese wurde von der Anwendungsbetreuung in ihrer Funktion ausschließlich dahingehend beschrieben, daß das System damit schneller laufen werde, da die eingestellten Texte nunmehr nicht mehr auf der Basis von "winword" erstellt seien, sondern als bloße "RTF"-Dateien. Die Rechtsanwender, mittlerweile von der "Langsamkeit" des Systems genervt, zeigten sich ob dieser Ankündigung erfreut. Eine Installation der Software wurde für den 16.3.01 avisiert. Rechtzeitig vorher wurden alle "Hamburger Formulare" und "individuellen Formulare" zwecks späterer Übertragung in das upgedatete System gespeichert. Kurz vor dem 16.3.01 erreichte die Rechtsanwender die Nachricht, das die upgedatete Version nicht liefe und nunmehr erst im April, ca. am 20.4., die Installation des Up-Dates vorgesehen sei. Bis zu diesem Termin sei es nicht möglich, neue individuelle Formulare abzuspeichern und für den zukünftigen Gebrauch zu speichern, weil der Stand vom März nicht erneut aktualisiert und abgespeichert werden könne. Insbesondere im Verfahrensgebiet des Insolvenzrechtes, welches mittlerweile in den Verfahrenseckpunkten weitgehend durch "case-law" geprägt wird und somit die Notwendigkeit schneller Abänderung individueller "General-Verfahrensweisen" erzwingt, ein unschöner Nebeneffekt, da die Möglichkeit der generalisierten Erstellung "eigener Verfügungsformulare" somit entfiel.

Am 11.4.01 fand dann eine Kurzschulung (drei Stunden) der Richter mit der "Up-Date-Version" statt. Die generelle Ansicht des Formulars auf dem Bildschirm war verändert worden. Nunmehr ist der Bildschirm unterteilt und auf der rechten Seite wird eine "Verfügungsstruktur", d.h. ein Abbild aller Unterpunkte des Formulars mit Einzelüberschriften, angezeigt. Dies verschmälert den Bereich des sichtbaren Textes. Desweiteren ist nunmehr ein "Scrollen" (Rauf – und Runterfahren) im Verfügungstext eines Bausteins - wichtig bei längeren Textbausteinen, die individuell durch Einfügungen und/oder Änderungen der Verfahrenssituation angepasst werden müssen - nicht mehr möglich.

Wenigstens lief das System jetzt schneller bei den vorgenannten Verfahrensweisen "Aktualisieren" und "Signieren". Neben diesen eher technischen Änderungen stellten die Richter zu ihrem großen Erstaunen fest, daß die Formulare auch inhaltliche Änderungen erfahren hatten. Dies war zuvor in keiner Weise mitgeteilt worden. Offenbar hatte die Anwendungsbetreuung entweder einen entsprechenden Hinweis aus NRW ignoriert oder nicht erhalten. Jedenfalls war das Up-Date auf inhaltliche Änderungen, trotz Vorliegens seit über drei Monaten, nicht untersucht worden. Aufgrund der in der Schulung aufgerufenen fünf beispielhaften Formulare, verlangten die Richter nun den Ausdruck der vierzig am häufigsten benutzten Formulare in der Up-Date-Version. Dies wurde nach kurzfristiger Weigerung ("geht nicht ", "zu arbeitsaufwendig") nach leichtem Druck auch bewilligt. Die Richter arbeiteten nun die vierzig "neuen" Formulare durch und mußten feststellen, daß fast keines dieser Formulare unverändert geblieben war. Vielmehr waren zahlreiche – auch inhaltlich "schwerwiegende" - Änderungen erfolgt. Beispielsweise waren nunmehr in Verfügungen zur Verbraucherinsolvenz verfahrensbestimmende Textbausteine eingefügt worden, die auf der (von Hamburg abgelehnten) Rechtsprechung in NRW beruhen, beim Sachverständigenauftragsbeschluß waren neue Auftragsteile für den Sachverständigen als Standard vorgesehen, Beschlußtenöre waren abgeändert, Anschreiben an externe Stellen, z.B. Grundbuchämter, hatten abgewandelte Inhalte zum begehrten Ersuchen, etc, etc..

Mit anderen Worten: Der richterliche "Zettelkasten" war – quasi über Nacht – ein anderer geworden und dies wohlgemerkt ohne jede vorherige Beteiligung, ja ohne Vorabinformation, der Richter, die mit diesem Instrument ja arbeiten sollen. Auf Vorhalt und Nachforschung konnte bis heute nicht verläßlich geklärt werden, wer diese Änderungen wann und wo veranlasst, vorbesprochen und genehmigt hatte. Es konnte auch nicht geklärt werden, ob auf Sitzungen der Länderkommission, derjenigen Länderbeauftragten, die das System "IT-InsO" gekauft haben, diese inhaltliche Neuversion jemals besprochen und abgesegnet wurde. Entsprechende Nachfragen sind bis heute unbeantwortet.

Die Hamburger Richter mußten nunmehr mindestens die vierzig am häufigsten benutzten Formulare überarbeiten und "zurückändern" lassen. Eine Überarbeitungsarbeit, die inkl. Besprechungen ungefähr einen vollen richterlichen Arbeitstag von jeweils fünf Richtern in Anspruch nahm, ganz zu schweigen von den weiteren Telefonaten, Besprechungen und Arbeiten im Zusammenhang mit der Hamburger Anwendungsbetreuung. Der Vorgang ist zur Zeit nicht abgeschlossen.

II.

Schlußfolgerungen:

  1. Richterliche Arbeit wird u.a. auch durch die verwendeten Formulare, insbesondere zu verfahrensleitenden oder verfahrensbeendenden Situationen, mit geprägt.
  2. Es stellt eine Beeinflussung richterlicher Arbeit dar, wenn diese "Rahmenbedingungen" von außen geändert werden. Es liegt nahe, daß der informelle Druck auf den einzelnen Richter, ein EDV-System mit vorgegebenen – und unter Umständen nur mühevoll oder gar nicht zu ändernden Formularen – zu benutzen, eine Präjudizierung richterlichen Handelns im Wege eines vorbestimmten "Produktergebnisses" durch Anbieten von "Halbfertigprodukten mit Fertigstellungsgarantie bei Benutzung" darstellt. Da die Benutzung von Rechtsanwendungssoftware in Zukunft in allen Bereichen der Justiz zum Standard werden soll, gilt es, rechtzeitig die Grenzen der Einflußmöglichkeiten, die dadurch eröffnet werden, zu beschreiben.
  3. Die Nichteinbindung der tatsächlichen richterlichen NutzerInnen, also nicht nur der entsprechenden Verwaltungsebene, in die Auswahl einer Anwendungssoftware und deren Fortentwicklung, einschließlich des kontinuierlichen Abfragens und Einarbeitens der Praxiserfahrungen der Rechtsanwender, stellt eine Schlechtleistung dar, die wenigstens zu Reibungsverlusten im gerichtlichen Ablauf, aber auch zu unnötigen Minderungen von Effektivität führt. Solches sollte im Rahmen einer modernen Justiz vermieden werden.
  4. Der Ankauf von Anwendungssoftware für gerichtliche Verfahrensabläufe sollte die besonderen Anforderungen und Bedürfnisse der Rechtsanwendung berücksichtigen. Mit anderen Worten: Beim Ankauf einer Software zur Abwicklng eines ambulanten Eisverkaufes mag es angehen, wenn der Software-Entwickler eine Pflege und Nacharbeitung von Systemabläufen und - inhalten, die der Anwender als unbefriedigend und verbesserungswürdig erkennt und beklagt, verweigert, bei Rechtsanwendungssoftware ist eine solche – vertraglich abgesicherte (!) – Leistung unabdingbar. Wer an solchen Punkten spart, produziert mehr Folgekosten als Einsparungen.
  5. Nicht außer Acht zu lassen ist das Mitbestimmungsrecht der richterlichen Personalvertretung, des Richterrates (hier: gem. § 57 I HambRichtG)- auch und gerade bei der Veränderung der bereits eingeführten Software. Danach sind "wesentliche Änderungen von Arbeitsmethoden" mitbestimmungspflichtig. Dieses Mitbestimmungsrecht umfasst selbstverständlich eine inhaltliche Änderung des den Richtern zur Verfügung gestellten Formular-Wesens, insbesondere dann, wenn die erwartete "rationelle" PC-gestütze Aktenbearbeitung zwingend mit den zur Verfügung gestellten Formularen verknüpft wird.
III.

Ausblick:

Die richterliche Arbeitswelt wird seitens der Gerichtsverwaltungen zunehmend mit Instrumenten konfrontiert, die der Welt der Unternehmenseffektivierung im Bereich der freien Wirtschaft entstammen (z.B. Kosten - Leistungsrechnung , Einsatz SAP R 3, "balanced score card", vernetzter PC-Einsatz mit Rechtsanwendungssoftware, etc.). Dabei kommt es zunehmend zum Zielkonflikt zwischen Effizienzsteigerung bei Kostenminimierung einerseits und Bewahrung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung andererseits.

Die vorbeschriebenen Abläufe sind dafür signifikante Beispiele.

Dieser Konflikt resultiert aus der unreflektierten (gutwillige Interpretation) oder aber absichtlich unangepassten (böswillige Interpretation) Übertragung von Wirtschaftsorganisationsinstrumenten auf die Bereiche Rechtfindung – und –sprechung. Die originär unterschiedlichen Maximen der beiden "Welten", dort : Kapitalakkumulation, hier: unabhängige Streitentscheidung, werden nur ungenügend berücksichtigt. Der entstehende Effekt ist in jedem Fall Beeinflussung von Rechtsanwendung, da die übertragenen Instrumentarien "nicht passen". Wenn Richter ihre Zeit weitgehend mit Schreibarbeiten und dem "Kampf mit dem Computersystem" verbringen, ist dies nicht nur Ressourcenverschwendung, sondern letztendlich werden die begehrten "Produkte", also die Streitentscheidungen entweder länger dauern oder schlechter (=weniger überlegt, vorbereitet, etc.) ausfallen.

Solange Rechtsanwendung innerhalb der rechtsprechenden Gewalt und ihrer Verwaltung als reine "Produkterstellung mit Produktionskosten" mißverstanden wird und die weitergehenderen und wichtigeren Implikationen und Wirkungen ausgeblendet werden, z.B. Befriedungsfunktion, gesellschaftliche Sicherheit, Unabhängigkeit einer Entscheidungsinstanz bei zunehmender Macht von Wirtschaftsunternehmen im Zuge der Globalisierung, wird dieser Beeinflussungsversuch im Ergebnis eine unabhängige Judikative zerstören und die Mitarbeit von Rechtsanwendern an sinnvollen Verbesserungen durch Negativerfahrungen demotivieren.

Es wird Aufgabe der einen Modernisierungsproeß der Justiz betreibenden Verwaltungsinstanzen sein, rechtzeitig zu erkennen, daß durch ihre faktische Umsetzungsmacht zwar alles mögliche "machbar" ist und durchgesetzt werden kann, jedoch letztendlich zum Preis der Abschaffung des Grundkonsenses von einer funktionierenden Justiz, die die Bezeichnung "dritte Gewalt" verdient.

RiAG Frank Frind (Insolvenzgericht Hamburg)