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Justizgewährungspflicht contra richterliche Dienstpflicht?

Der Mitherausgeber der NJW, Rechtsanwalt Prof. Redeker, (NJW 2000, 2796: "Justizgewährungspflicht des Staates versus richterliche Unabhängigkeit?") und der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Sendler (NJW 2001, 1256: "Fragwürdigkeiten der richterlichen Unabhängigkeit") haben sich in jüngster Zeit zur richterlichen Unabhängigkeit dezidiert kritisch geäußert. In vielem, zumal ihren praktischen Beispielen, kann man ihnen nur zustimmen. Indessen macht unser Kollege Wolfgang Hirth zu Recht auf unerlässliche Unterscheidungen aufmerksam, die zu treffen beide Autoren versäumen - Unterscheidungen, die ihrer möglichen Konsequenzen wegen keineswegs übergangen werden dürfen.

Die Kommentare Redekers und Sendlers sind a.a.O. nachzulesen. Die nötige Anmerkung Hirths findet sich in der Echo-Spalte des NJW-Heftes 33/2001 S. XXI. Da diese Seiten später nicht mit der NJW gebunden werden, sondern irgendwann im Orkus verschwinden, möchten wir den Einwurf in den MHR festhalten.

Bertram

Richterliche Unabhängigkeit
ist nicht "fragwürdig"

Erwiderung auf Redeker NJW 2000, 2796 und Sendler NJW 2001, 1256

Mit Redeker und Sendler ist darin übereinzustimmen, dass Richter ihre Amtsgeschäfte unverzögert zu erledigen haben, eine Erinnerung an diese Pflicht nicht die richterliche Unabhängigkeit berührt und ein richterlicher Verstoß gegen diese Pflicht eine Verletzung der Dienstpflicht und/oder des Rechtsanspruchs des Bürgers auf Justizgewährung darstellen kann. Pflichtverletzung und Justizgewährungsanspruch sind jedoch streng voneinander zu unterscheiden.

Der Justizgewährungsanspruch steht dem Bürger gegen den Staat (nicht gegen den Richter) zu. Der Anspruch ist einklagbar. Dieser Anspruch des Bürgers besteht unabhängig von der Haushaltslage1: der Bürger hat seinen Justizgewährungsanspruch auch oder gerade dann, wenn der Staat - und sei es aus Kostengründen - sich schlecht organisiert. Dazu führt das BVerfG2 aus: "Das Rechtsstaatsprinzip fordert im Interesse der Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden ... Es verlangt eine funktionsfähige Rechtspflege. Dazu gehört auch eine angemessene Personalausstattung der Gerichte."

Wenn diese staatliche Pflicht verletzt wird (einerlei ob infolge schuldhafter Verletzung richterlicher Pflichten, struktureller Überbelastung der Justiz oder mangelhafter Organisation), so erwachsen daraus für den Bürger Ansprüche (z.B. auf Beschleunigung, auf Freilassung aus der Untersuchungshaft, auf Schadensersatz).

Anders ist es mit der Dienstpflichtverletzung des einzelnen Richters, die das zentrale Thema Redekers und Sendlers im Hinblick auf die Unabhängigkeit ist. Dies ist eine Frage der Dienstaufsicht, an der der Bürger nicht beteiligt ist. Die Dienstpflichtverletzung ist sehr wohl von der Haushaltslage abhängig, denn ein zu karger Haushalt kann die Pflichterfüllung unmöglich machen. Die nicht nur objektive Dienstpflichtverletzung setzt ein Verschulden des einzelnen Richters voraus. Dem Richter ist nach BGH3 kein persönlicher Verzögerungsvorwurf zu machen, "wenn ein Arbeitsanfall in Frage steht, welcher allgemein, also auch von anderen Richtern nicht sachgerecht bewältigt werden könnte".

Redeker und Sendler bemerken jedoch nicht einmal ansatzweise, dass die Rahmenbedingungen für eine zügige Erledigung sich laufend dadurch verschlechtern, dass die Parlamente die Justiz von Jahr zu Jahr weiter drastisch zusammenstreichen4.

Es erstaunt, dass so erfahrene Praktiker wie Redeker und Sendler die beklagenswerte gelegentliche Überschreitung der gesetzlichen Fristen für die Urteilsabsetzung zum Anlass nehmen, über eine angebliche Bequemlichkeit der Richter zu räsonnieren (zumal die Urteile sowieso gemacht werden müssen). Vielleicht beruht dies darauf, dass der Praxis-Schwerpunkt dieser Autoren im Rechtsmittelverfahren liegt; gegen gut gelaufenene Fälle der ersten Instanz - und das ist der Normalfall - werden natürlich tendenziell seltener Rechtsmittel wegen Verfahrensverstößen eingelegt.

Natürlich gibt es auch unter Richtern das ein oder andere "schwarze Schaf" (mit dem man sich nicht abfinden darf). Viel häufiger jedoch liegt der Grund für Fristüberschreitungen nicht in einer Bequemlichkeit von Richtern, sondern in den schlechten Rahmenbedingungen. So setzen manche Richter die Verkündungsfristen von vornherein weiträumiger, weil der Schreibdienst (dem gegenüber der Richter kein Weisungsrecht hinsichtlich der Art und Weise der Aufgabenerfüllung hat!) die "Sollfristen" nicht einhalten kann und das Parlament dennoch von Jahr zu Jahr weitere Stellen auch im Schreibdienst streicht. Gibt der Richter zu "kurze" Fristen vor, so kommt die Sache vom Schreibdienst ungeschrieben wieder zurück und muss ein Verlegungsbeschluss gefasst und die Akte erneut auf den Weg gebracht werden, was das Verfahren noch stärker verzögert. Sehr würden die Richter es begrüßen, wenn ihr Umfeld so ausgestattet würde, dass die Fristeinhaltung immer möglich ist.

Auch die Stellenstreichungen in der Richterschaft haben ein immenses Ausmaß erreicht. Und wenn es daraufhin im Getriebe knirscht, dann fällt Redeker und Sendler als erstes die Dienstaufsicht ein. Froh sollten sie sein, dass es bei dem Ausmaß an Haushaltsstreichungen nicht stärker knirscht, denn das erreichen die Richter nur durch ihren weit überobligatorischen Einsatz, wie die Statistik beweist5.

Noch ein Wort zur "Zurückführung der Unabhängigkeit auf ihren Kernbereich", bei der Redeker und Sendler sich erneut im Einklang mit Hoffmann-Riem6 befinden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (a) der derzeitigen Ausgestaltung der Unabhängigkeit durch die Rechtsprechung, (b) der faktischen vorsichtigen Handhabung der Dienstaufsicht und (c) einer "mißbräuchlichen Inanspruchnahme"7 der Unabhängigkeit durch einzelne Richter.

Ein Fall von (c) ist beherzt zu korrigieren durch (b); einer (welcher?) Änderung von (a) bedarf es dazu nicht."

Wolfgang Hirth


  1. a.A. wohl Hoffmann-Riem JZ 1997, 1, 8: "Rechtsgewährung droht zum 'knappen Gut' zu werden, bei dessen Verteilung der Effizienzgedanke und Gerechtigkeitserwägungen sich wechselseitig anreichern müssen"; dagegen Hirth, MHR 2/1998, 30 = www.richterverein.de/mhr/mhr982/98230.htm
  2. BVerfG NJW 2000, 797
  3. BGH NJW 1988, 419
  4. Zahlenmaterial bei www.richterverein.de, Rubrik "Reformen", dort Haushalt etc.
  5. Am LG Hamburg lag schon vor den stärksten Stellenstreichungen die Erledigung in Zivilsachen je Richter um mehr als 30 % über dem Soll nach Pensenschlüssel.
  6. AnwBl 1999, 2; vgl. MHR 2/1998, 27 = www.richterverein.de\mhr\mhr982\98227.htm
  7. Eigentlich geht es nicht um den Mißbrauch eines vorhandenen Unabhängigkeitsschutzes, sondern um die versuchte Inanspruchnahme eines vermeintlichen, aber nicht vorhandenen Schutzes.

Anm. des Homepage-Betreuers:
Zum o.a. Artikel erschien eine Erwiderung von Egon Schneider
Er wurde zitiert bei Frehse, Die Beteiligungsrechte der Richter-/Personalvertretungen bei Nutzerbefragungen innerhalb des Benchmarking, DRiZ 2002, 141.