(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/04, 13) < home RiV >

„Die stammelnde Nation“

 

zu Günter Bertram in MHR 1/2004, S. 19 ff.

 

Klagen über den Verfall der deutschen Sprache sind in der Tat sehr alt. Bereits in seinem 1891 unter dem Titel „Allerhand Sprachdummheiten“ erschienenen „Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen“, bringt der Verfasser, der Stadtbibliothekar und Direktor des Ratsarchivs in Leipzig, Dr. Gustav Wustmann, seinen Unwillen darüber zum Ausdruck, „dass sich unsere Sprache in einem Zustande der Verwilderung befindet“[1]; denn „fast jeder Tag gebiert neues[2], was den Freund der Sprache mit „Trauer, ja mit Zorn erfüllt“. Wustmann machte auch einen Hauptschuldigen aus: „Der eigentliche Herd und die Brutstätte dieser Verwilderung sind“, so schrieb er, „die Zeitungen, ist die Tagespresse in der Gestalt, die sie seit Einführung der Preßfreiheit (1848)... angenommen hat“[3].

 

Solche Vorwürfe, mögen sie damals berechtigt gewesen sein oder nicht, sollen hier zwar nicht gegen die heutigen Medien wiederholt werden, aber es scheint doch so, als wären sie sich nicht immer ganz der ihnen von Bertram mit Recht zugeschriebenen Vorbildfunktion für den Umgang mit der deutschen Sprache bewusst, sondern spiegelten eher den allgemeinen Trend zu deren sorglosem Gebrauch wider.

 

Ausgerechnet unter der Überschrift „Schmidt warnt vor Katastrophe in der Bildung“ liest man z.B. in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 22.04.2004 (S. 3): „Schmidt kritisierte auch unionsgeführte Länder, besonders Bayern, die Ganztagsschulen zu wenig fördern würden“. Anstatt bei der indirekten Rede den korrekten Konjunktiv eines Verbs zu verwenden, weicht man in die bequemer erscheinende, aber den Konditional ausdrückende Umschreibung mit „würde“ aus: Personen sehen so aus, „als würden sie warten“[4]. Mancher meint, „die Bürger würden erwarten, ...“[5]. „Der Spiegel“[6] hat erfahren, dass Deutschkenntnisse im Taxigewerbe kein Prüffach seien. „Manche ausländischen Neulinge würden den Personenbeförderungsschein – ... – mit Hilfe eines Dolmetschers beantragen“.

 

Dass der Konjunktiv der indirekten Rede seine Tücken hat, bekommen manchmal auch Richter bei der Wiedergabe des streitigen Parteivortrags im Urteilstatbestand zu spüren. Da die deutsche Sprache keine Möglichkeit bietet, in der abhängigen konjunktivischen Rede ohne Zuhilfenahme von Umschreibungen zum Ausdruck zu bringen, dass ein Vorgang in der Vergangenheit, in der sich der Parteivortrag bewegt, bereits abgeschlossen war, fühlt man sich genötigt, durch das Anhängen von „gehabt“ ein neues Tempus zu erfinden: „Der Kläger habe am 01.03.1993 193 Punkte erreicht gehabt“[7].

 

In der Umgangssprache begegnet man diesem Tempus sogar bereits im Indikativ: „Ich habe gedacht gehabt“ oder „gesagt gehabt“. Es hat seinen Ursprung vermutlich im bayerisch-österreichischen Dialekt, wo es natürlich und liebenswürdig klingt. Aber man sollte sich doch hüten, dieses verdoppelte Perfekt in sein Hochdeutsch zu übernehmen. Leicht erliegt man dann der weiteren Gefahr, Vergangenes nur noch im Plusquamperfekt zu erzählen wie jener Fußballfan, der am
24. Juni d.J. in den abendlichen NDR-Nachrichten äußerte: „Wir waren enttäuscht gewesen“. Sogar ins Zeitungsdeutsch schleicht sich das das Imperfekt ersetzende Plusquamperfekt bereits ein: „Der ehemalige Verteidigungsminister ... und Gräfin ... haben ihre Hochzeit nachgefeiert. Unter den Gästen waren Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und der Frankfurter Bankier Friedrich Metzler gewesen“
[8].

 

In gleicher Weise, wie versucht wird, die konjunktivische Form eines Verbs durch den Gebrauch von „würde“ zu umgehen, neigt man dazu, der Inversion auszuweichen. Mit der Konjunktion „weil“ eingeleitete Nebensätze werden z.B. als Hauptsätze fortgesetzt. Es heißt nicht mehr: „Ich gehe in den Wald, weil ich ihn liebe“, sondern „Ich gehe in den Wald, weil: ich liebe ihn“. Man möchte denjenigen, die so formulieren, zurufen: „So dürft Ihr nicht sprechen, weil: das ist falsch!“

 

Bei Funk- und Fernsehmoderatoren fällt neuerdings auch auf, dass sie durch betontes Abweichen von der Schriftsprache mehr an Unmittelbarkeit und Natürlichkeit und damit an Sympathie zu gewinnen glauben. Wie mag es sonst zu erklären sein, dass sie laufend Füllsel wie „da“ oder zwischengeschobene Relativ- bzw. Demonstrativpronomen unter ihre Rede mengen? Warum kann es in einem natürlich vorgetragenen Wetterbericht nicht heißen: „In Bremen scheint die Sonne“ oder „Der Regen beginnt nachzulassen“? Nein, munter wird verkündet: „In Bremen, da scheint die Sonne“ bzw. „Der Regen, der beginnt nachzulassen“ oder „In der Sonne, da ist es warm“. Ähnlich locker berichtet der Sportreporter (1. Mai im Fernsehen): „Der Vorsprung, der schmolz zwar, aber ...“. In einer anderen Sendung wird dem Zuschauer verheißen: „Den Erbauer des Schlosses, den stellen wir vor“. Sodann erfährt man: „Das Schloss, das wird noch renoviert“ und „dieses schöne Haus, das wurde gebaut, als ...“. In einer Musiksendung wird alsdann ein Sänger, der auch dirigieren kann, angesagt mit: „Dirigieren, das wird er auch jetzt“. In einem politischen Kommentar heißt es: „Das Europa der 25, es wird sich noch bewähren müssen“. Die bevorstehenden Nachrichten werden angekündigt: „Den Nachrichten, denen nähern wir uns jetzt langsam“.


 

Schon finden sich Nachahmer dieser Füllsel-Sprache in der Zeitung: „Seinen Traum, den hat er ... nie aufgegeben. Als die Finger ... wieder gelenkiger wurden, da hat er sich wieder ans Klavier gesetzt“[9].

 

Überhaupt gibt man sich – auch in seriösen Presseberichten und Nachrichtensendungen – gern umgangssprachlich leger: Verhandlungen scheitern nicht mehr, und Termine fallen nicht aus, nein, sie „platzen“. Geschehnisse werden „gestoppt“, Firmen gehen „pleite“, Sachen „passieren“, Leute „schmeißen“ sich ins Zeug, eine Bank „platzt“ beim Börsengang. In einer Nachrichtensendung wird versichert: „Es gibt keinen Knall“. Am Wahltag in Thüringen „landet“ die SPD bei 14 %. Großer Beliebtheit erfreut sich die Wendung „von daher“ anstelle von „deshalb“; „Nachhaltigkeit“ ist gefragt, wird sogar manchmal „hinterfragt“.

 

Modern sind auch gesteigerte Ausdrucksformen. Vor der schlichten Verneinung genießt „in keinster Weise“ den Vorzug. Es genügt nicht, Häuser oder Wohnungen als sauber zu beschreiben, sondern sie sind stets „blitzsauber“. Das Verb „kritisieren“ kann offenbar nicht mehr allein stehen: Was Anstoß erregt, wird „scharf kritisiert“.

 

Zu beobachten ist leider auch, dass Präpositionen mit dem falschen Kasus verbunden werden: „Es bleibt nicht bei Absichtserklärungen, sondern mündet in konkreten finanziellen Zusagen“, heißt es in „Die Welt“ vom 29.04.2004 (S. 33). Beliebt ist auch „wider besseren Wissens“ oder „unseres Erachtens nach“.

 

Daran, dass „binnen“ und „entlang“ nicht mehr mit dem Dativ, sondern lieber mit dem Genitiv verknüpft werden, wird man sich wohl gewöhnen müssen, aber dass mit „samt“ („samt dreier Schlösser“)[10], „mitsamt“ („mitsamt seiner Bewohner“)[11], „entgegen“ („entgegen ursprünglicher Pläne“[12]; „entgegen bisheriger Pläne“[13]; „entgegen gängiger Klischees“[14]), „nahe“ („nahe des Büros“)[15], „fern“ („dann sollst Du fern aller Gefahren leben“)[16] und „zum Trotz“ („Aller gegenteiligen Behauptungen zum Trotz“)[17] ebenso verfahren wird, geht doch zu weit und wird schwerlich dadurch ausgeglichen, dass anderweitig dem richtigen Genitiv der Akkusativ oder Dativ vorgezogen wird. So heißt es in „Die Welt“ vom 12.06.2004 (S. 38): „Denn nach den strengen Schutzvorschriften bedarf jeder Eingriff in die Natur eine ausdrückliche Genehmigung aus Brüssel“ und am 21.06.2004 (S. 34): „So möchte sie dem Dauerstau vor dem Elbtunnel Herr werden“.

 

Äußerst beliebt ist der Dativ bei Appositionen ohne Rücksicht darauf, dass das Substantiv, dem sie zugeordnet sind, in einem anderen Fall steht. So schreibt „Der Spiegel“[18]: „In Thronsälen mit riesigen Herdfeuern lebten diese Herrscher: Bosse der ersten Großmacht Europas – dem mykenischen Reich“ und: „Denn bei Homer steht Troja unter dem Schutz des ähnlich klingenden Apollon, dem Gott der Künste“. In „Die Welt“ vom 08.06.2004 (S. 32) las man: „Das mutmaßliche Herz Ludwig XVII, dem Sohn des 1793 ... hingerichteten Königs Ludwig XVI“. Selbst in einer Beilage zum Programm des NDR-Sinfonieorchesters vom 07.05.2004 in der Hamburger Musikhalle heißt es: „Ugorski war und ist Gast so bedeutender Festspiele wie dem Klavierfestival Ruhr, dem Rheingau Musikfestival, dem Kissinger Sommer, den Berliner Festspielen und den Fernsehwochen Luzern“.

 

Welcher Stellenwert der deutschen Sprache beigemessen wird, brachte der Programmchef von „NDR-Kultur“ (!) in einem Interview vom 25.06.2004 („Die Welt, S. 38) zum Ausdruck, wenn er meinte, man müsse dafür Sorge tragen, „dass die Wortbeiträge in Umfang und Inhalt erträglich“ blieben, d.h. ein zusammenhängender vierminütiger Kulturbericht könne nur ausnahmsweise „akzeptiert“ werden, „wenn es Anlass und Machart hergeben“. Hoffentlich verfällt man nicht noch auf den Gedanken, solche Berichte, um ihre Akzeptanz zu erhöhen, mit eingängiger Musik zu untermalen, wie dies andere Rundfunksender (z.B. NDR Info) schon bei Wettervorhersagen und Verkehrsberichten praktizieren! Ob sich da wohl ein Politiker fände, der dem Einhalt geböte unter Wiederholung des Ausrufs: „Ich habe die Nase voll!“ oder „Die Partei ist dafür nicht zu haben“ bzw. „Dies ist mit uns nicht zu machen“? Aber insoweit wird wohl kein „Kónsens“ (mit Betonung auf der ersten Silbe wie bei Épizentrum) zu erzielen sein.

 

Die hier so nörgelt, steht (wie man vielleicht schon bemerkt hat, falls nicht die Redaktion berichtigend eingeschritten ist[19]), natürlich auch mit der Rechtschreibreform auf Kriegsfuß. Aber bereits Wustmann wusste[20]: „Ältere Leute folgen der Umbildung der Sprache gewöhnlich mit Widerstreben, sie hängen an der Ausdrucksweise, die sie sich in ihrer Kindheit und Jugend angeeignet haben“.

 

Eva Glitza

 


 

[1] Einleitung S. 3

[2] Kleinschreibung im Original, weil Wustmann auch einen Kampf gegen substantivierte Adjektiva führt (S. 215 ff.).

[3] S. 14

[4] „Die Welt“ vom 22.05.2004, S. 29

[5] „Die Welt“ vom 16.06.2004, S. 2

[6] Nr. 22 vom 24.05.2004, S. 50

[7] Schleswig Holsteinisches OVG, Urteil vom 25.08.1995, DÖD 1996 S. 168

[8] „Die Welt vom 28.06.2004, S. 24

[9] „Die Welt“ vom 28.06.2004, S. 8

[10] „Der Spiegel“ Nr. 24 vom 07.06.04, S. 68

[11] NDR Hamburg-Journal vom 24.06.04

[12] „Die Welt“ vom 24.05.04, S. 15

[13] „Der Spiegel“ Nr. 23 vom 29.05.04, S. 95

[14] „Die Welt“ vom 11.06.04, S. 1

[15] NDR Tagesschau vom 01.06.04

[16] Feyl, Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit, 3. Auflage München Zürich 2002, S. 163

[17] NDR Info, 11.06.04, 17.00 Uhr

[18] Nr. 21 vom 17.05.04, S. 156, 158

[19] Anm. d. Red.: in diesem Falle nicht

[20] a.a.O. S. 4