(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/05, 6) < home RiV >

GEWALTTÄTIGE  JUGEND 

- RATLOSE  GESELLSCHAFT

 

Am 13. Dezember 2004 diskutierten in der Grundbuchhalle unter reger Beteiligung der
- trotz der vorweihnachtlichen Zeit - zahlreich erschienenen Interessenten miteinander:

·        der jetzige rechtspolitische Sprecher der CDU–Bundestagsfraktion, Dr. Gehb,

·        der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens, Prof. Pfeiffer,

·        der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE, Prof. Riedesser, und

·        der Präsident des Landgerichts Hamburg, Öhlrich.

·        Die Leitung der Diskussion lag bei dem Redakteur des NDR, Siebert.

 

Unter Verzicht auf jede Fußnote und höchst subjektiv will ich eine Nachlese zu dieser Veranstaltung des Hamburgischen Richtervereins und der Gesellschaft Hamburger Juristen wagen, in der Hoffnung, das Thema in der MHR weiter zu diskutieren.

 

Es mag sein, dass die Strafbarkeit der erwachsenen Täter eher rückläufig ist. Die der Jugendlichen und Heranwachsenden hat erheblich zugenommen. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Straftaten Jugendlicher und Heranwachsender nahezu verdoppelt und ist von 32.000 auf nahezu 60.000 angestiegen. Die Ursachen dafür sind sicherlich nicht allein in einer Zunahme strafbaren Verhaltens der Jugendlichen und Heranwachsenden zu sehen. Eine Rolle kann spielen, dass die Aufklärungsarbeit der Polizei Früchte trägt und Opfer der Straftäter zunehmend den Mut finden, Straftaten anzuzeigen. Erschreckend allerdings ist, dass lediglich 6% der jugendlichen und heranwachsenden Täter für nahezu 60% der Gewalttaten verantwortlich sind. Dabei fällt insbesondere den Richtern der Jugendstrafkammern auf, dass die Qualität der Gewalt in erschreckendem Masse zugenommen hat. Das für Jugendliche und Heranwachsende zuständige Schwurgericht hatte in den Jahren zwischen 1970 und 2000 nur wenige Fälle zu bearbeiten, bei denen Waffen eingesetzt wurden. Danach allerdings stieg insbesondere der Messereinsatz explosionsartig an. In 34 der seit 2000 verhandelten 38 Fälle wurden Messer als Tatwaffen benutzt. Motive dieser Taten waren in 17 Fällen so genannte „Anmache“ und in 25 Fällen - teilweise zusätzlich - Rache aus nichtigen Motiven. Aus der Sicht des Vorsitzenden eines für Erwachsene zuständigen Schwurgerichts kann diese Entwicklung nur bestätigt werden. Junge Erwachsene zwischen 21 und 25 Jahren werden zunehmend als Täter von Tötungsdelikten aus nicht nachvollziehbaren nichtigen Anlässen verurteilt.

 

Es mag sein, dass die Zuwanderung aus den osteuropäischen Staaten mit teils unverständlichen Vorstellungen von Ehre und Moral Auslöser dieser Taten sind. Auch die häufige Herkunft der Täter aus sozial desolaten Verhältnissen kann die Straftaten erklären. Prügelkinder werden halt häufiger zu „Prügeltätern“. Das allein kann es aber nicht sein. Immer wieder begehen Jugendliche, Heranwachsende und auch junge Erwachsene aus sozial zumindest scheinbar intakten Verhältnissen schwerste Straftaten, die den Richter ratlos machen. Die zutage tretende Brutalität und Rücksichtslosigkeit sind nicht mehr nachzuvollziehen. Streitigkeiten an der Musik-Box um den Titel der auszuwählenden Platte enden mit einem Stich in den Hals und den Worten: „Du bist doch nur noch Geschichte“; nichtige Dispute mit einem Gast einer Geburtstagsfeier damit, dass wortlos und ohne jede Vorwarnung der Gesprächspartner niedergestochen wird. Die Beispiele ließen sich vielfach fortsetzen. Da bleiben die Richter in der Verhandlung und danach oftmals ratlos zurück. 

 

Auch die Gesellschaft allgemein weiß letztlich nicht recht weiter. Pädagogische Maßnahmen werden in schöner Regelmäßigkeit alle Jahre wieder in unterschiedlichster Form gefordert. Ob es die geschlossenen Heime mit oder ohne intensiv-pädagogischer Betreuung sind oder der Aufenthalt auf einer Segeljacht, weder die eine noch die andere Richtung konnte offenbar der eingangs erwähnten Entwicklung der Straftaten begegnen. Sicher ist es sinnvoll, die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um im „Vorfeld“ der Begehung von Straftaten entgegen zu wirken. Sicher ist die sofortige Reaktion auf Straftaten, abgestuft nach der Schwere des Delikts, erforderlich. Die deutliche Botschaft des Staates: „Straftaten werden nicht geduldet und schnell sanktioniert“, kann kriminelle Karrieren möglicherweise im Keim ersticken. Die Einrichtung einer staatsanwaltlichen und gerichtlichen „task-force“, die diese sofortigen Reaktionen ermöglicht, mag ohne Personalmehrbedarf zu verwirklichen sein. Auch ein Messer- und Waffenverbot zu bestimmten Zeiten in besonders gefährdeten Stadtteilen wäre zu überlegen. Weiter wird die Herabsetzung der Altersgrenze für die Anwendbarkeit des Erwachsenenstrafrechts auf 18 Jahre gefordert. Dies wird teils strikt, teils derart verlangt, dass bei Vorrang des Erwachsenenstrafrechts eine neu zu schaffende Strafmilderungsmöglichkeit fakultativ für Täter zwischen 18 und 21 zur Anwendung kommen soll. Da die Adoleszenz eine Phase ohne feste Grenzen ist, könnte dies für eine möglichst große Flexibilität bei der Beurteilung der Straftatfolgen durch die Gerichte sprechen. Sicher weit jenseits einer möglichen Verwirklichung liegt die Forderung, das Jugendstrafrecht bis zum 25. Lebensjahr anzuwenden. Offen ist, welchen Erfolg derartige Maßnahmen im Falle ihrer Verwirklichung bringen.

 

Ob derartige Überlegungen überhaupt in die Tat umgesetzt werden, bleibt angesichts der Versäumnisse in der Vergangenheit abzuwarten. Die Gesellschaft mag ebenso wie der Richter im Einzelfall ratlos sein. Die Jugendgerichtsbarkeit ist deswegen aber sicher nicht am Ende. Weder die Dezentralisierung des Jugendgerichts noch die seit langem bekannten Eingangszahlen haben es geschafft, diesen Gerichtszweig lahm zu legen. Es mag sich bei dem einen oder anderen Richter Unmut mit dieser oder jener Gegebenheit eingestellt haben. Mir ist aber kein Fall bekannt, der Anlass gäbe, die insgesamt verantwortungsvoll und effizient arbeitende Jugendgerichtsbarkeit in Hamburg in Frage zu stellen.

Gerhard Schaberg