(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/05, 29) < home RiV >

 

Richter im Judentum

Nach dem Artikel „Richter im Islam“ in der letzten MHR[1]  bot sich in Fortsetzung dazu das Thema „Richter im Judentum“ an. Jüdische Gerichte gibt es auch heute noch / wieder in Deutschland. Die taz vom 09.08.2000[2] berichtete vom „ersten orthodoxen Rabbinatsgericht auf deutschem Boden“, seit 1938 die national-sozialistische Regierung mit dem „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ den Synagogengemeinden den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts entzog und sie damit ihrer autonomen religiösen Gerichtsbarkeit beraubte. Dieser Richter residiert seit 1999 in Konstanz und ist ausgestattet mit einem Zertifikat des Jerusalemer Oberrabbinats. Seine Urteile haben hier allerdings - anders als in Israel - keine rechtliche Bindungswirkung. Der Richter wurde geholt, nachdem zuvor strenggläubige Juden, die sich in religiösen Streitfragen nicht an liberale Rabbiner wenden mochten, Gerichtshöfe in England oder der Schweiz anrufen mussten. Kurz darauf wurde das „Zentrale Beth Din für Deutschland“ in München errichtet[3].

Unser pensionierter Kollege Dr. Schroeder hat es übernommen, dieses Thema gründlicher zu durchdringen. Der ehemalige Vorsitzende des Schwurgerichts ist Mitglied des Vorstands der Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch in Hamburg.

 

Wolfgang Hirth

 

 

Rabbinatsgericht in Wilna [4]

 

Gerichte und Richter im Judentum

Vorbemerkung

Die Hebräer, Israeliten, Judäer oder Juden, wie sie heute genannt werden, besitzen seit Jahrtausenden eine eigene Rechtsordnung sowie eine Gerichtsbarkeit, die im Laufe der Zeit und an den verschiedenen Orten trotz einer im Wesentlichen unveränderten Rechtsgrundlage unterschiedlich ausgesehen hat. Sie in einem Aufsatz darzustellen, ist natürlich unmöglich. Aber vielleicht kann man eine Ahnung von einer der Ursachen vermitteln, die es den Juden ermöglicht hat, bis heute unter den Völkern zu überleben.

 

Die Ursprünge

Mose, der Anführer der Hebräer, die er gerade aus der ägyptischen Knechtschaft geführt hatte, setzte sich nieder, (Ex. 18: 13)[5]

… das Volk zu richten, und das Volk stand um Mose her von Morgen an bis zum Abend.

Da aber sein Schwiegervater sah alles, was er mit dem Volke tat, sprach er:

… Du machst dich zu müde. … das Geschäft ist dir zu schwer Du kannst’s allein nicht ausrichten.

 

und Jethro, der Schwiegervater, gab Mose den Rat (Ex. 18: 17-23),

… stelle ihnen Rechte und Gesetze, dass du sie lehrest den Weg, darin sie wandeln, und die Werke, die sie tun sollen. Sieh dich aber um unter allem Volk nach redlichen Leuten, die Gott fürchten, wahrhaftig und dem Geiz feind sind; die setze über sie, etliche über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, dass sie das Volk allzeit richten; wo aber eine große Sache ist, dass sie dieselbe an dich bringen, und sie alle geringen Sachen richten.

Mose befolgte den Rat (Ex. 18: 24-26) und sprach später zu seinem Volk (Deut. 1: 16, 17):

… und [ich] gebot euren Richtern zur selben Zeit und sprach: Verhöret eure Brüder und richtet recht zwischen jedermann und seinem Bruder und dem Fremdlinge. Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen, und vor niemandes Person euch scheuen; denn das Gerichtsamt ist Gottes.

 

Das war der Ursprung des jüdischen Gerichtswesens. Bemerkenswerterweise bestellte Mose Richter, bevor sein Volk Gesetze erhielt.

Als die Hebräer sich in dem ihnen versprochenen Land niedergelassen hatten, wurde die Zuständigkeit der Richter statt auf nummerischer auf territorialer Basis geregelt. Es wurden daher in allen Orten Richter eingesetzt.

 

Rechtsquellen

Quelle des jüdischen Rechts ist die Tora. Sie umfasst die fünf Bücher Mose der christlichen Bibel, das Pentateuch. Die Tora enthält göttliches, also unveränderbares Recht. Dabei handelt es sich nicht nur um die uns bekannten zehn Gebote, sondern um 248 Gebote und 365 Verbote. Es war das einzige schriftlich niedergelegte Recht. Daneben gab es das mündlich überlieferte Recht als das Ergebnis der Bemühungen der Juden in ihren Gerichten sowie in Rechtsschulen, die Bedeutung der Gebote und Verbote der Schrift für ihre Situation und ihre Zeit zu verstehen. Das mündlich überlieferte Recht ermöglichte, anders als das in der Schrift niedergelegte göttliche Recht, gewisse exegetische Freiheiten. Um den Unterschied zur Schrift nicht zu verwischen, sollte diese
Überlieferung eigentlich nicht schriftlich fixiert werden. Der wachsende Umfang der mündlichen Überlieferung über viele Jahrhunderte nötigte jedoch schließlich dazu, auch diese Überlieferungen aufzuschreiben. So entstand der Talmud. Der Talmud, zu deutsch etwa „Lehre“ oder auch „Studium“, ist das Sammelwerk eines Jahrtausends. Er besteht aus der hebräisch verfassten mischna, also den Religionsgesetzen, und der aramäisch verfassten gemara, den protokollartigen Aufzeichnungen der Diskussionen über die mischna in Lehrhaus und Gerichtshof, die schließlich sachlich geordnet und niedergeschrieben wurden. Neben diesem rechtlichen Stoff, der halacha, enthält der Talmud die hagada. Das sind erbauliche Betrachtungen, Gleichnisse und Erzählungen.[6]

Umfassender und bedeutender als der jerusalmitische Talmud ist der babylonische, der als verbindlich gilt. Die Redaktion des babylonischen Talmuds war etwa im 6. Jahrhundert nach der Zeitenwende abgeschlossen. Da die Rechtsfragen im Talmud kontrovers diskutiert wurden, blieb häufig unklar, welche Auffassung als die richtige gelten sollte. Hinzu kam, dass in der Diaspora der Talmud häufig nicht verfügbar war, und er in seiner Sprache und seinem Aufbau auch nicht immer verstanden wurde. Das führte immer wieder zu Anfragen bei den Gelehrten in Babylon, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 durch die Römer und dem folgenden Niedergang der jüdischen Gelehrtenzentren in erez israel als geistige Führer des Judentums galten. Diese Anfragen enthielten die Bitte um Übersendung eines bestimmten Teils des Talmuds zu bestimmten Rechtsfragen mit Erläuterungen im Hinblick auf einen bestimmten Streit. Die Antworten, die sogenannten Responsa, gewährleisteten die Einheit des jüdischen Rechts. Die überlieferten Responsa geben heute Einblick in die Probleme, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten die jüdischen Gerichte beschäftigten.

Kommentare, so vor allem die Kommentare des Raschi[7] im 11. Jahrhundert, erleichterten später das Studium des Talmuds. Die erste umfassende systematische Darstellung des jüdischen Rechts verfasste jedoch erst im 16. Jahrhundert Joseph Caro[8] mit dem „schulchan aruch“ (Gedeckter Tisch).

Für die Juden in der Diaspora war die Frage nach der Verbindlichkeit der Gesetze des Wirtsvolkes von Bedeutung. Grundsätzlich waren die Juden gehalten, die Gesetze des Landes zu beachten, in dem sie lebten, denn das sei Gottes Wille. Dieses sogenannte Samuelsche Prinzip wird aus dem Buch Nehemia 9: 27 hergeleitet und im Talmud näher erörtert.

Die Gerichte

Das jüdische Gericht heißt bet din (pl. battei din), wörtlich das Haus des Gerichts. Es ist immer ein Kollegium. Den Einzelrichter gibt es grundsätzlich nicht. Das Richten ist Gottes Sache. Nur Gott kann daher allein richten. Wenn Menschen richten, müssen mehrere zusammenwirken, um größtmögliche Sicherheit dafür zu erlangen, den Willen Gottes zu treffen.

 

Es gab allerdings bereits in talmudischer Zeit Rechtskundige, die als Einzelrichter tätig wurden, allerdings nur in Zivilsachen und unter ausdrücklicher Missbilligung und mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass nur Gott allein ein wahrer Einzelrichter sein könne. Niemand konnte gezwungen werden, sich der Jurisdiktion eines Einzelrichters zu unterwerfen.

 

In kleinen Orten (weniger als 120 Einwohner) war das Gericht mit drei Richtern besetzt. Das war die kleinstmögliche Anzahl; denn bei unterschiedlichen Meinungen musste eine Mehrheitsentscheidung möglich sein. In größeren Orten gab es die sanhedrin ketana (das kleine Sanhedrion), ein Kollegium bestehend aus 23 Richtern. Das höchste Gericht war die sanhedrin gedola (das große Sanhedrion) mit dem Sitz am Tempel in Jerusalem. Es war mit 71 Richtern besetzt.

 

Die Dreierkollegien waren zuständig für Zivilsachen, für Ehescheidungen sowie für Verleumdungen. Ein Dreierkollegium war ferner erforderlich für die Entscheidung über den Übertritt zum Judentum und für die Befreiung von Gelöbnissen und für weitere im einzelnen bezeichnete Angelegenheiten.

Ein Gericht mit 23 Richtern war für Strafsachen einschließlich der Verfahren wegen Kapitalverbrechen erforderlich sowie für Sachen, in denen Tiere beteiligt waren (Lev. 20: 15-16; Ex.21: 28-29).

Das große Sanhedrion mit 71 Richtern besaß eine allumfassende richterliche, gesetzgeberische und administrative Zuständigkeit. Einige Angelegenheiten waren jedoch allein dem großen Sanhedrion vorbehalten. Der Hohe Priester, der Führer des Stammes sowie der Präsident des großen Sanhedrion, der ursprünglich Nasi genannt wurde, konnten in Strafsachen nur vor diesem Gericht abgeurteilt werden. Auch für einige Straftatbestände war ausschließlich das große Sanhedrion zuständig. Dazu gehörten das Verkünden falscher Prophezeiungen und das Verbreiten aufrührerischer Lehren. In einigen Fällen mussten Todesurteile vom großen Sanhedrion bestätigt werden. Auch für Ver­fahren gegen Frauen wegen Ehebruchs war bis zu seinem Untergang ausschließlich das große Sanhedrion in Jerusalem zuständig.

 

Zu den administrativen Aufgaben des großen Sanhedrion gehörte unter anderem die Bestellung der 23-er Kollegien sowie die Wahl der Könige und Hohen Priester.

 

Das große Sanhedrion in Jerusalem war aber vor allem die bedeutendste Stätte der Bewahrung und Entwicklung des mündlich überlieferten Rechts.

Am Tempel in Jerusalem gab es ferner ein mit Priestern besetztes Gericht, das mit der Überwachung des Tempelrituals sowie für die zivilrechtlichen Verhältnisse der Priester zuständig war.

Die Ernennung der Richter, ihre Qualifikation und ihr Verhalten

Die Ernennung der Richter erfolgte ursprünglich durch Handauflegen (semikhah). Die Bibel berichtet, dass Mose den Joschua durch Handauflegen ordinierte (Num. 27: 18-23) und dadurch einen Teil seiner Segenskraft weitergab. Er ordinierte auf diese Weise auch die 70 Ältesten, die ihn fortan bei den Regierungsgeschäften unterstützten (Num. 11: 16-17; 24-25). Die Ältesten ordinierten ihrerseits dann ihre Nachfolger durch Handauflegen, so dass es schließlich, von Mose ausgehend, eine ununterbrochene Kette von Ordinationen durch Handauflegen gab, die bis in die Zeit des zweiten Tempels reichte. Niemand durfte juristische Entscheidungen in religiösen oder praktischen Fragen treffen, ohne zuvor auf rechte Weise ordiniert worden zu sein.

Die Ordination erfolgte in einem Dreierkollegium. In der Babylonischen Zeit war zusätzlich die Zustimmung der Exilarchen von Babylon erforderlich, um ein Richteramt in Babylon auszuüben. Auch in erez Israel wurde später die Zustimmung des Königs erforderlich.

Ein ordinierter Richter hatte das Recht, ein Kollegium mit der erforderlichen Anzahl von Mitgliedern durch Hinzuziehung von Laien zu bilden.

Nach dem Bar-Kochbar-Aufstand[9] verbot Kaiser Hadrian die Ordination durch Handauflegen bei Todesstrafe sowohl für den Ordinierenden wie für den Ordinierten.

Die Gerichte übten danach ihre Gerichtsbarkeit lediglich in einer Art „Geschäftsführung ohne Auftrag“ und aufgrund einer angenommenen Autorität der Altvorderen aus. Dies galt zwar nicht für die Aburteilung von Kapitalverbrechen. In der Praxis gab es jedoch keine Beschränkung der Gerichtsbarkeit.

Es kam aber auch die Ernennung von Richtern durch die Könige vor, beispielsweise durch Josaphat im neunten vorchristlichen Jahrhundert (II. Chron. 19: 5-6). Ein Verfahren, das wahrscheinlich aus Babylon übernommen wurde, wo es die Ordination durch Handauflegen ohnehin nicht gab; denn sie durfte nur in erez israel vorgenommen werden.

Eine der Folgen der Aufgabe der herkömmlichen Ernennung der Richter war die Übernahme des Systems der Richterwahl in manchen Gemeinden, vornehmlich in Westeuropa. Zur Sicherung der Auswahl der Besten war es vielfach so, dass der Gewählte das Amt übernehmen musste, auch wenn er sich nicht darum beworben hatte.

Keine Ernennung eines Richters, sei es durch Handauflegen, sei es auf andere Weise, ist gültig, wenn der Ernannte nicht fachlich und moralisch qualifiziert ist. Die Sünde der Ernennung eines unqualifizierten Richters gleiche der Aufstellung eines Götzenbildes neben dem Altar des Herrn (Talmud, Sanh. 7b).

Die Anforderungen an einen Richter sind von dem großen Gelehrten Moses Maimomides[10] zusammenfassend beschrieben worden. Er soll weise und sensibel sein, kenntnisreich und erfahren im Gesetz. Er muss Kenntnisse auch auf anderen Gebieten haben, wie Medizin, Arithmetik, Astronomie und Astrologie. Er soll über die Methoden der Zauberei Bescheid wissen sowie über den Götzendienst, um auch darüber urteilen zu können. Er darf nicht zu alt sein, kein Eunuch und kein kinderloser Mann. Er soll von stattlicher Erscheinung sein und frei von körperlichen Gebrechen. Er soll sich in vielen Sprachen unterhalten können, um nicht auf Dolmetscher angewiesen zu sein. Die sieben fundamentalen Eigenschaften eines Richters sind Weisheit, Bescheidenheit, Gottesfurcht, Nichtachtung des Reichtums, Wahrheitsliebe, Menschenliebe und ein guter Ruf. Ein Richter soll ein gutes Auge und eine bescheidene Seele haben. Er soll angenehm in Gesellschaft sein und auf die Menschen freundlich zugehen. Er soll selbstbeherrscht sein und allen Impulsen widerstehen. Er soll mutig sein und Unrecht vermeiden. Spielen um Geld und Geldverleih gegen Zinsen disqualifizieren vom Richteramt. Ein Richter, der mit einer Partei verwandt ist oder in einer besonderen persönlichen Beziehung zu ihr steht, darf in dieser Sache nicht tätig werden. Ein Richter soll sich nicht mit körperlicher Arbeit beschäftigen, um nicht öffentlicher Verachtung anheim zu fallen.

Ein Richter soll in der Verhandlung geduldig und nachsichtig sein, bescheiden und respektvoll gegenüber anderen. Er soll stets beide Parteien zu der Sache hören und darf keine Partei diskriminieren (Lev. 19:15). Er darf auch nicht unter dem unpassenden Einfluss von Bestechung durch Geld oder Schmeicheleien stehen. Er muss einerseits mit Bedacht und Sorgfalt handeln und vor der abschließenden Entscheidung alle Umstände immer wieder durchdenken. Er darf andererseits jedoch das Verfahren nicht unangemessen verzögern. Er muss so handeln, dass Gerechtigkeit nicht nur geschieht, sondern dass auch erkennbar ist, dass sie geschieht. Jeder Richter ist verpflichtet zu prüfen, ob der neben ihm sitzende Richter ausreichend qualifiziert ist. Kein Richter darf mit einem Richter zusammenarbeiten, den er hasst oder verachtet. Kein Richter darf sich seiner richterlichen Verantwortung dadurch entziehen, dass er sich höheren Richtern anschließt, anstatt nach eigener Überzeugung zu entscheiden.

Frauen waren zu Gemeindeämtern, also auch zum Richteramt, nicht zugelassen. Das gilt grundsätzlich auch heute noch. Es gibt in der Diaspora allerdings inzwischen Reformgemeinden mit weiblichen Rabbinern.

 

Die Talmudische Zeit

Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 wurde Jabne das kulturelle und politische Zentrum der Juden. Dort entstand ein bet din mit 71 Richtern als Nachfolger des großen Sanhedrion, das für den Kalender zuständig war und dadurch vorübergehend zum religiösen und nationalen Zentrum der Juden in erez Israel und in der Diaspora wurde. Sein Präsident wurde gewählt. Um die Mitte des dritten Jahrhunderts begann jedoch der Einfluss des bet din in Jabne abzunehmen. Dies lag einerseits an der zunehmenden Unterdrückung der Juden in erez Israel durch die römische Besatzungsmacht zum anderen daran, dass die Lehrhäuser dort langsam verkümmerten, während sie in Babylon aufblühten.

Der Titel der führenden Köpfe der Akademien in Sura und Pumbedita in Babylon war gaon (pl. geonim). Die geonim wurden als die höchsten Autoritäten der jüdischen Lehre geachtet. Als Ehrentitel lebte der gaon vor allem im Ostjudentum bis ins 20. Jahrhundert fort. Die Epoche der geonim begann am Ende des 6. Jahrhunderts nach der Zeitenwende und dauerte bis ins elfte Jahrhundert. Kein bet din in Babylon konnte jedoch zu einer dem früheren großen Sanhedrion in Jerusalem entsprechenden Vormachtstellung gelangen, nicht einmal in Babylon selbst.

 

Mittelalter und Neuzeit

Das jüdische Recht und das bet din waren in der Diaspora bis in unsere Zeit der Hauptgarant der Unabhängigkeit der jüdischen Gemeinden, die sich von Anfang an bewusst von ihrer christlichen Umwelt abgegrenzt hatten. Der ständische Charakter des mittelalterlichen Staatswesens begünstigte diese Autonomie, zu deren Bestandteilen neben der eigenen Gerichtsbarkeit auch die Finanzhoheit und die Armenfürsorge gehörten. Das jüdische Recht unterlag zwar in der Diaspora zahlreichen Veränderungen, verließ aber nie seine talmudische Grundlage.

 

Die Anwendbarkeit des jüdischen Rechts und die Tätigkeit der battei din wurden im deutschen Raum durch kaiserliche Erlasse ermöglicht, die im 12. und 13. Jahrhundert den Juden eine eigene Rechtssphäre sicherten, die von den christlichen Behörden anerkannt und erforderlichenfalls durch Rechts- und Amtshilfe unterstützt werden sollte. Die Verbannung eines Juden durch das bet din nötigte also auch die kommunalen Behörden, dem Betroffenen das Aufenthaltsrecht zu entziehen. Die kaiserlichen Erlasse sicherten auch die Möglichkeit, Nichtjuden vor jüdischen Gerichten zu innerjüdischen Angelegenheiten zu hören. Das hatte vor allem für die aguna Bedeutung. Die aguna, die verlassene Ehefrau, war die bedauernswerteste Person in der jüdischen Gesellschaft. Sie war in aller Regel nicht aus bösem Willen von ihrem Mann verlassen worden. Aber Juden waren oft auf Reisen, und das Reisen war damals sehr gefährlich. So mancher Reisende geriet dadurch in Verschollenheit, und seine Ehefrau galt fortan als aguna. Sie war nicht mehr Ehefrau und noch nicht Witwe. Für sie, ihre Stellung und Versorgung und auch für ihre Familie und die des Mannes, war es lebenswichtig, Gewissheit über das Schicksal des Mannes zu bekommen. Aber jemanden für tot zu erklären, war an sehr strenge Voraussetzungen gebunden. Deshalb wurden in diesen Verfahren Beweismittel anerkannt, die in anderen Bereichen nicht in Betracht kamen.

Das Verhältnis der jüdischen Gerichtsbarkeit zur nichtjüdischen war natürlich zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedenen Orten unterschiedlich. Es gab die ausschließliche Zuständigkeit der jüdischen Gerichte beispielsweise im Personenstandswesen und auch die ausschließliche Zuständigkeit staatlicher Gerichte zum Beispiel bei Kapitalverbrechen. Aber auch das galt nicht immer und überall.

Die christlichen Behörden haben, was nicht überrascht, nicht selten die kaiserlich verbrieften Rechte der Juden missachtet. So wiesen beispielsweise christliche Gerichte Klagen von Juden häufig nicht einfach als unzulässig ab, wie es die kaiserlichen Privilegien eigentlich vorsahen, sondern entschieden in der Sache, und zwar oft im Sinne des Klägers, worauf dieser auch gerechnet hatte. Denn es gab die Tendenz, zugunsten des Klägers zu entscheiden, um die Juden zu ermuntern, ein christliches Gericht anzurufen. Ursache hierfür dürfte nicht nur Aversion gegen jüdische Sonderrechte, sondern auch das Interesse der christlichen Behörden an den Gebühren gewesen sein. Diese Neigung christlicher Gerichte, zugunsten des jüdischen Klägers zu entscheiden, führte wiederum dazu, dass für manche Juden die Drohung, eine Sache vor ein christliches Gericht zu bringen, ein probates Mittel der Erpressung gewesen sein dürfte.

Im Allgemeinen war es den Juden im Mittelalter auf das Strengste verboten, ohne zwingenden Grund Streitigkeiten untereinander vor nichtjüdischen Gerichten auszutragen; denn Richten war Gottes Sache, und deshalb bedeutete das Anrufen eines fremden Gerichts die Stärkung der Ehre eines fremden Gottes. Durchgesetzt wurde dieses Verbot durch die soziale Kontrolle innerhalb der Gemeinden in Verbindung mit der Fairness, Unbestechlichkeit und Schnelligkeit, die die jüdische Justiz in den meisten Ländern fast immer auszeichnete. Das Anrufen eines nichtjüdischen Gerichts ohne zwingenden Grund galt als „Denunziation“ und war für manche Rabbiner ein todeswürdiges Verbrechen; denn Interna aus dem jüdischen Leben sollten den christlichen Behörden nicht bekannt werden. Aber auch schwindende Autorität jüdischer Gerichte mag zu kompromissloser Haltung gegenüber „Denunzianten“ beigetragen haben.

In einigen Ländern waren die Juden auf nichtjüdische Gerichte angewiesen. Das war der Fall in Ägypten und erez Israel im elften und zwölften Jahrhundert wegen des Niederganges des dortigen jüdischen Gelehrtenzentrums sowie in Spanien und dem Magreb seit dem 14. Jahrhundert.

Wegen Fehlens einer zentralen Autorität über die in Europa entstehenden jüdischen Gemeinden wurde die Justiz Teil der jeweiligen Gemeindeverwaltung. Entweder bildeten die Gemeindeältesten selbst das Gericht
oder es wurden besondere dayonim, also beisitzende Richter, gewählt. Das waren normalerweise Laien. Diese Gerichte hatten anfangs volle Autorität, Bußen zu verhängen und Strafen zu vollstrecken. Als jedoch die Gemeinden begannen, Rabbiner anzustellen, waren die Richter gehalten, sich bei ihnen Rat für die Auslegung des talmudischen Rechts zu holen. Schließlich wurden die Rabbiner selbst zu Richtern. Bis ins 18. Jahrhundert hatten die Rabbiner zwei Funktionen: Sie leiteten die örtlichen Rabbinatsgerichte, soweit es sie gab, und waren Vorsitzende der jeschiwot, der Talmudhochschulen, wo es sie gab. Sie waren im Übrigen Kenner der religiösen Vorschriften und Hüter der Tradition. Sakrale, sakramentale oder seelsorgerische Aufgaben hatten sie nicht. Ihre Anwesenheit in den Gottesdiensten war nicht erforderlich. Erst im 19. Jahrhundert trat in Zentraleuropa im Zusammenhang mit der Bildung des Reformjudentums ein Wandel ein. Die Rabbiner wurden auch Prediger und Seelsorger ihrer Gemeinden.

In Spanien[11] war die jüdische Gerichtsbarkeit bis zur Verfolgung und Austreibung der Juden am stärksten entwickelt. Sie erhielt ihre Autorität durch die Könige, die wiederholt einen Oberrabbiner für das gesamte Königreich ernannten, dem auch die Gerichtsbarkeit unterstand. Es gab Anweisungen, im Falle der Verhaftung eines Juden das örtliche bet din zu benachrichtigen. Auch konnten Rabbiner die jüdischen Gerichte beim königlichen Gerichtshof vertreten, um sicherzustellen, dass auch bei Kapitalverbrechen der jüdischen Angeklagten nach jüdischem Recht abgeurteilt wurde. Die jüdischen Gemeinden hatten an diesem Gericht ständige Vertreter ihrer Interessen. Die Gerichtsbarkeit betraf das gesamte jüdische Leben, das gemeinschaftliche sowohl wie das des Einzelnen. Grundlage war zwar das talmudische Recht. Es wurde jedoch ein rigoroses Strafensystem entwickelt, das vielfach mit dem der alten gerichtlichen Praxis nichts zu tun hatte, sondern eine Übernahme der Strafen christlicher Gerichte darstellte. Zulässige Strafen waren Auspeitschungen, Geldbußen, Exkommunikation, Ausweisung, Kerker, körperliche Verstümmelungen sowie die Todesstrafe. Die Strafen für „Denunziation“ fielen in Spanien deutlich schärfer aus als in Deutschland oder Frankreich. Es konnten sogar Todesurteile verhängt werden. Diese Praxis war im Judentum aber sehr umstritten und blieb mit wenigen Ausnahmen auf Spanien beschränkt.

In Polen und Litauen gab es bis zur ersten Teilung Polens im Jahre 1772 Zentralinstanzen der jüdischen Selbstverwaltung, die auch die Aufgaben eines obersten Gerichtshofes wahrnahmen. Jüdische Appellationsgerichte gab es auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Italien, Österreich-Ungarn, Böhmen und Mähren und Bulgarien.

Die Gerichte für Zivilsachen bestanden meist aus drei Richtern. Es gab auch andere Zusammensetzungen, die von einem Richter (mit der oben dargestellten Einschränkung) bis zu den sieben Ältesten der Gemeinde reichten. Weit verbreitet waren Schiedsgerichte, bei denen jede Partei einen Richter und diese dann den dritten auswählten. Gab es in der Gemeinde bestimmte Körperschaften, vor allem solche der verschiedenen Handwerke, konnten diese ihre eigenen battei din einrichten.

Auch in Russland war die Macht der battei din bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts groß. Vor der Abschaffung der jüdischen Gemeinden im Jahre 1844 waren die battei din nicht nur für die strafrechtliche Beurteilung der Gemeindemitglieder, sondern auch für die Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und der Gemeinde zuständig. Es gibt sogar einen Bericht über die Todesstrafe gegen zwei „Denunzianten“ in Novo Ushitza im Jahre 1836.

Nach Abschaffung der Gemeinden in ihrer bisherigen Form wurde eine sehr begrenzte Form gemeindlicher Organisation eingeführt, die nur wenige Hilfsaufgaben für die zaristischen Behörden erledigte, beispielsweise für die Eintreibung der Abgaben, die Wahl eines staatlich-anerkannten Rabbiners[12], dessen Aufgabe die Registrierung von Geburt, Eheschließung und Tod sowie das Lobpreisen der Regierung an offiziellen Feiertagen war, ferner für die Rekrutierung zum Militär. Das Recht, Gerichtsbarkeit auszuüben, hatten diese Gemeinden nicht.

Bei den orientalischen Juden stand die jüdische Gerichtsbarkeit auch im 19. und 20. Jahrhundert noch in voller Blüte. Das lag zum einen an den Besonderheiten des ottomanischen Reiches aber auch daran, dass es Assimilationstendenzen kaum gab und die Juden den Bemühungen der Zentralgewalt, sie den Rechtnormen des Landes zu unterwerfen, erheblich mehr Widerstand entgegensetzten als in Europa.

Israel

In Palästina gab es zur Mandatszeit ein ausgebildetes System von Battei Din, eingerichtet von dem Obersten Rabbinatsgericht in Jerusalem. Der Staat Israel hat dieses System übernommen und ihm die alleinige Zuständigkeit für Personenstandsangelegenheiten der Juden übertragen. Das ist der Bereich, in dem das jüdische Recht weiterhin unmittelbar gilt. Hier fehlt auch die an sich in Israel gesetzlich garantierte Gleichberechtigung der Geschlechter.

Im heutigen Israel werden die rabbinischen Richter auf dieselbe Weise ernannt wie die staatlichen. Während die Qualifikation der staatlichen Richter im Gesetz festgelegt ist, muss die Qualifikation eines rabbinischen Richters im Einzelfall durch den Chefrabbiner aufgrund eines strengen Examens bestätigt werden. Staatliche Richter können auch Frauen sein. Für die rabbinischen Richter gilt das nicht.

In Israel wirkt sich auch noch unmittelbar aus, dass der Untergang des großen Sanhedrion in Jerusalem mit der Zerstörung des Tempels die Fortbildung des mündlich überlieferten Rechts erheblich erschwert. Das hat beispielsweise zur Folge, dass es auch heute noch in Israel Jahr für Jahr in einigen Fällen Probleme mit der Leviratsehe, der sogenannten Schwagerehe, gibt. Wenn ein verheirateter Mann kinderlos stirbt, ist der Bruder des Verstorbenen, der levir, gehalten, die Witwe, die yevemah, zu heiraten (Deut, 25: 5-6). „Und den ersten Sohn, den sie gebiert, soll er bestätigen nach dem Namen seines verstorbenen Bruders, dass sein Name nicht vertilgt werde aus Israel.“ Weigert sich der levir, die yevemah zu heiraten, findet vor einem Rabbinatsgericht mit drei Mitgliedern die Zeremonie des chalizah statt (Deut. 25: 7-10), wodurch beide von ihrer Verpflichtung zur Leviratsehe befreit werden, und die Frau erneut heiraten kann. Während es früher für den levir ehrenrührig war, die yevemah nicht zu heiraten, besteht heute in Israel ein einklagbarer Rechtsanspruch auf die chalizah, was der Frau allerdings nicht in allen Fällen nützt; denn die Weigerung, seine Schwägerin zu heiraten, kann der levir erst erklären, wenn er durch die bar mizvah mit etwa 13 Jahren vollberechtigtes Mitglied der Gemeinde geworden ist. Solange muss die Frau warten, oder sie muss die neue Ehe im Ausland eingehen.

Deutschland

In Altona, das hier beispielhaft für den deutschen Raum genannt sei, erstreckte sich die eigene Gerichtsbarkeit der jüdischen Gemeinde zunächst auf das Zeremonialrecht und das Zivilrecht. Strafsachen wurden normalerweise vom Stadtgericht abgeurteilt. Im Jahre 1680 wurde das Jurisdiktionsprivileg auf das Zeremonialrecht beschränkt. Christian VI. erweiterte allerdings im Jahre 1731 das Privileg wieder auf das Zivilrecht.

Das Rabbinatsgericht bestand aus dem Rabbiner und zwei Assessoren. Das Verfahren war recht einfach. Advokaten waren nicht zugelassen. Für Vollstreckungen konnten ab 1781 christliche Behörden in Anspruch genommen werden.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlor das Rabbinatsgericht an Einfluss. Es mehrten sich die Anträge an den dänischen König, von der Rabbinatsgerichtsbarkeit befreit zu werden. Diesen Anträgen wurde meistens stattgegeben. Im Jahre 1782 wurde die Banngewalt des Rabbinatsgerichts eingeschränkt. Im Jahre 1863 wurde die jüdische Gerichtsbarkeit durch das dänische „Gesetz betreffend die Verhältnisse der Juden im Herzogtum Schleswig“ aufgehoben.

Im Jahre 1671 war es zur Bildung des Dreiergemeindeverbandes Altona-Hamburg-Wandsbek gekommen. Den Supremat besaß Altona, das damals eine religiöse Freistatt war. Der Oberrabbiner von Altona war Vorsitzender des Rabbinatsgerichts für die drei Gemeinden. Die Annektion Hamburgs durch Frankreich im Jahre 1812 war das Ende des Dreigemeindeverbandes. In Hamburg lebten damals etwa 6.300 Juden. Das war die größte jüdische Gemeinschaft in Deutschland.

Das Rabbinat und die gemeindlichen Strukturen waren in vielen Orten Mitteleuropas in eine Krise geraten. Als ein Weg aus dieser Krise wurde das Reformjudentum angesehen, das sich nach der Franzosenzeit in Hamburg entwickelte. Die im Reformjudentum verwirklichten Änderungen werden aus der Bestallungsurkunde für den Rabbiner  Isaak Bernay aus dem Jahr 1821 erkennbar. Dort heißt es: Nach Aufhebung der Autonomie sei er für Zivilsachen nicht mehr zuständig. Auch sei er nicht befugt, Individuen, seien sie Gemeindeangehörige oder fremde Israeliten, Korporationen oder die Gemeinde selbst wegen begangener oder unterlassener religiöser Handlungen zur Rede zu stellen, ihnen kirchliche Wohltaten vorzuenthalten oder sie zu bestrafen.

Neben dem Reformjudentum gab es in Hamburg natürlich weiterhin Vertreter der Orthodoxie, und es gab europaweit teilweise erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Reformjuden und orthodoxen Juden. Auch in der traditionsbewussten Gemeinde in Altona war man von den Vorstellungen des Reformjudentums noch weit entfernt. Aber man war bereit, auf die Verhängung des Bannes bei Erhalt der autonomen Gerichtsbarkeit zu verzichten.

In Hamburg wurde 1860 durch eine Reform der Staatsverfassung die Rechtsstellung der Juden erheblich verbessert. Die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden war weitgehend erreicht. Im Jahre 1861 führte Hamburg - als erster Staat in Deutschland - die Zivilehe ein, was einen Einbruch in ein überkommenes Feld jüdischer Gemeindeautonomie bedeutete. Die hiermit eingeleitete Entwicklung löste in der Orthodoxie erhebliche Sorge aus, die sich letztlich aber als weitgehend unbegründet erwies. Die Konsequenzen aus der Verfassungsreform wurden durch das „Gesetz betreffend die Verhältnisse der hiesigen israelitischen Gemeinden“ vom 4. November 1864 gezogen. Der Gemeindezwang wurde aufgehoben. Die Möglichkeit des Austritts aus der Gemeinde eröffnet. Die Verpflichtung der Gemeinde zur Armen- und Krankenfürsorge und zur Sorge um das Schulwesen wurde aufgehoben. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen wurden am 3. November 1867 die „Statuten der Hamburger Deutsch-Israelitischen Gemeinde“ verabschiedet und alsbald vom Senat bestätigt. Eine Spaltung der Gemeinde wurde dadurch verhindert[13]. Diese Statuten bildeten bis zur Auflösung der Gemeinde im Jahre 1938 die Grundlage ihrer Existenz.

Die Weimarer Verfassung garantierte allen, also auch den jüdischen Religionsgemeinschaften volle religiöse Freiheit. Diese Garantien wurden vom Grundgesetz übernommen. Der Status der christlichen Großkirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit dem Recht, unter anderem, zur Steuererhebung wurde bestätigt. Anderen Religionsgemeinschaften konnte unter bestimmten Voraussetzungen dieser Status verliehen werden, wovon viele jüdische Gemeinden Gebrauch machten. Die jüdischen Gemeinden konnten als Körperschaften des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts - wie andere Körperschaften auch - eine Verbandsgerichtsbarkeit einrichten, deren Tätigkeit natürlich mit den allgemeinen Gesetzen vereinbar sein musste. Es hat daher weiterhin Rabbinatsgerichte gegeben und gibt sie auch heute wieder für alle Fragen des talmudischen Rechts.

Nach der Befreiung im Jahre 1945 verschlug es etwa 1300 Juden nach Hamburg. Es waren vor allem orthodoxe Juden aus Osteuropa sowie einige „portugiesische“ Juden, die überlebt hatten. Für die Einrichtung unterschiedlicher Gemeinden oder Kultusverbände reichte die Zahl nicht. So wurde die Einheitsgemeinde gegründet, die sich langsam und unter Schwierigkeiten konsolidierte.

Bedeutung des jüdischen Gerichtswesens

Die halacha und das bet din waren bis in die jüngste Vergangenheit eine wesentliche Voraussetzung für den Fortbestand jüdischer Existenz. Nur die dadurch ermöglichte Abgrenzung konnte auf Dauer die Vermischung mit dem nichtjüdischen Umfeld und damit den Untergang verhindern.

Mit den Emanzipationsbemühungen der Juden in der Neuzeit in Europa und ihrer Forderung nach staatsbürgerlicher Gleichstellung war jedoch die Aufrechterhaltung der juristischen Autonomie nicht vereinbar. Die Regierungen beschnitten häufig im Gegenzug zu den Zugeständnissen die Rechte der jüdischen Gerichte sogar im Bereiche des Zivilrechts.

Aber auch viele Juden bevorzugten in ihrem Wunsch nach Integration zunehmend die allgemeinen Gerichte und damit auch die Regelung ihrer Angelegenheiten nach den Regeln des staatlichen Rechts. Diese Entwicklung war in West- und Zentraleuropa stärker ausgeprägt als in Osteuropa. In Osteuropa empfanden sich die Juden bis zur Shoa noch als ein Volk, zu dessen Attributen wenigstens eine eigene Rechtsordnung und Gerichtsbarkeit gehörten. In Zentral- und Westeuropa und vor allem in den USA reduziert sich das Judentum langsam auf eine Religionsgemeinschaft.

Die weitgehende Aufhebung der jüdischen Gerichtsbarkeit blieb auch nicht ohne Einfluss auf das jüdische Recht; denn die nach dem Wegfall des großen Sanhedrions in Jerusalem ohnehin erschwerte Möglichkeit zur Fortentwicklung des Rechts verringerte sich weiter, weil dieses Recht von seiner praktischen Anwendung abgeschnitten wurde, und dies in der Zeit der erheblichen sozialen, ökonomischen und industriellen Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das jüdische Recht hat daher Probleme mit seiner Eignung für ein Leben in dem nichtjüdischen Umfeld der modernen, liberalen Staaten vor allem in Zentral- und Westeuropa bekommen. Dieser Umstand beeinträchtigt naturgemäß das traditionelle Bewusstsein der Juden in der Diaspora, das nur das Leben nach dem jüdischen Gesetz auf die Dauer das Überleben der Juden in der Welt gewährleisten kann.

 

Literatur:

Haim Hermann Cohn und Isaak Levitats, BET DIN and Judges, Encyclopaedia Iudaica (EJ), CD-ROM-Edition

Menachem Elon, Mishpat ivri: the Era of Emancipation, EJ

Vila Orbach, Russia, EJ

Israel Moses Ta-Shma und Shlomo Tal, Responsa, EJ

Israel, State of; Legal and Judicial System, EJ

Shmuel Shilo; DINA DE-MALKHUTA DINA, EJ

Louis Isaac Rabinovitz, Levirate Marriage and halizah, EJ

Menachem Elon, The Ceremony of halizah. EJ

Haim Hillel Ben-Sasson, Councils of the Lands, EJ

M. Lübke, Die Responsenliteratur, http://talmud.de/Rspons.htm

M. Lübke, Das jüdische Gericht im Mittelalter, http://talmud.de/bejtdin.htm

„Der Talmud", ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, Orbis Verlag, Sonderausgabe 1999

Peter Freimark, „Das Oberrabbinat Altona – Hamburg – Wandsbek“. aus: „Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990“, S. 177 ff., Dölling und Galitz Verlag, Hamburg, 1991

Ina S. Lorenz, „Die jüdische Gemeinde Hamburg 186-1943; Kaiserreich-Weimarer Republik-NS-Staat“ aus: „Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990“, S. 77 ff.

Raoul Wenzel Michalski, „Die Jüdische Gemeinde in Hamburg seit den 50er Jahren“ aus „Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990“, S. 101 ff.

 

Hans-Ulrich Schroeder

 


[1]) Yassari, MHR 4/2004, 26

[2]) www.hagalil.com/archiv/2000/08/konstanz.htm

[3] www.beth-din.de

[4] www.historiazydow.edu.pl/npanel04.html

[5] nach der Übersetzung Luthers

[6] „Also leuchtet auch der Talmud

Zwiefach, und man teilt ihn ein

In Halacha und Hagada.

Erstre nannt ich eine Fechtschul  -

Letztre aber, die Hagada,

Will ich einen Garten nennen,

Einen Garten hochphantastisch …“

(Heinrich Heine: aus Jehuda ben Halevy)

               

[7] Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak, 1040-1105. Er wurde in Frankreich geboren und studierte an den Talmudschulen in Worms und Mainz, die kurz zuvor gegründet worden waren.

[8] Geboren 1488 in Toledo, lebte und arbeitete er zunächst in der Türkei und später in Safed. Dort starb er 1575. Sein Grab ist in Safed heute noch zu sehen.

[9] 132-135. Jerusalem wurde anschließend von den Römern vollständig zerstört. An seiner Stelle wurde die römische Militärsiedlung Aelia Capitolina errichtet, die von Juden nicht betreten werden durfte.

[10] Er ist auch unter dem Namen Rabbi Moses ben Maimon. oder rambam bekannt, dem Akronym seiner Initialen. Er wurde 1135 in Cordoba geboren. Nach der Eroberung Cordobas durch die Almahaden im Jahre 1148 ging Maimonides mit seiner Familie ins Exil, weil auch den Juden der Islam aufgezwungen wurde. Er ließ sich schließlich in Ägypten nieder. Hier wurde Maimonides zum obersten Rabbiner von Kairo und Leibarzt Saladins, des Sultans von Ägypten und Syrien, ernannt. Etwa 1180 veröffentlichte er die mischne tora, die „Wiederholung der Lehre“. Er starb 1204.  

[11] Die iberische Halbinsel geriet zu Beginn des 8. Jahrhundert unter die Herrschaft der Kalifen von Damaskus. Die Reconquista (Rückeroberung) des Landes aus maurischer Herrschaft begann noch im 8. Jahrhundert und führte zur Bildung christlicher Königreiche, die sich zunächst durch politische und religiöse Toleranz auszeichneten. Die Verfolgung und Vertreibung der Juden begann im 14. Jahrhundert. 1480 wurde die Inquisition eingerichtet. 1492 vollendete Ferdinand II., der Katholische, die Reconquista durch Eroberung von Granada, der letzten maurischen Bastion in Spanien, und vertrieb die Juden und Mauren.

[12] Diese staatlich verordneten Rabbiner sind nicht zu verwechseln mit den Rabbis des Chassidismus, einer in Osteuropa seit dem 18. Jahrhundert weitverbreitete mystische Bewegung.

[13] Unter dem Dach der Gemeinde wurden zwei selbständige Kultusverbände für die Orthodoxen und für die Reformjuden gebildet. Aufgabe der Gemeinde waren lediglich das Schul- und Erziehungswesen, die allgemeine Wohlfahrtspflege und das Begräbniswesen. Für den religiösen Bereich waren ausschließlich die Kultusverbände zuständig. Es stand jedem Gemeindemitglied frei, sich einem oder auch keinem der Kultusverbände anzuschließen. Es war also möglich, Jude ohne religiöse Bindung zu sein. Umgekehrt war es auch möglich, Mitglied eines der Kultusverbände zu sein, ohne der Gemeinde anzugehören.