(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/06, 28) < home RiV >

   Wappen Deutschlands mit Bundesadler

 

Der Fragebogen

 

Hundert Fragen soll im Lande Hessen künftig jeder beantworten, der vom Mitbürger im poetischen zu einem solchen im rechtlichen Sinne werden möchte[1]. Dahinter steht die späte Erkenntnis, dass deutsche Staatsangehörigkeit – nicht weniger als die anderer Länder - keine Ramschware ist, feilzubieten wie saures Bier, sondern ein wertvolles Gut und Privileg; weiterhin, dass die nationalstaatliche Gemeinschaft eine gewisse Homogenität, einen natürlichen Zusammenhalt wahren muss und folglich vom Beitrittskandidaten durchaus verlangen darf, seinen ernsten Willen plausibel und glaubhaft zu machen, künftig mit Rechten und Pflichten dazu zu gehören. Plausibel in erster Linie durch Spracherwerb, ist bei uns doch nicht nur die Gerichtssprache (§ 184 GVG) deutsch; die Sprache ist es, die in erster Linie den geschichtlichen, kulturellen, politischen und sozialen Zugang zur Aufnahmegesellschaft eröffnet und später die Teilhabe wahrt[2]. Ob auch Fragebögen dazu taugen, ist etwas zweifelhaft, mag aber letztlich zutreffen, freilich nur in bescheidenen Grenzen[3]: Die „richtigen“ Antworten kann man sich schließlich vorpauken lassen – vielleicht beim „Einwanderungsrepetitor“. Doch dieses ganze durchaus strittige Thema mag hier auf sich beruhen.

 

Drehen wir die Sache stattdessen einmal um ihre Achse herum: Was sagt der Fragebogen über die „geistige Verpackung“ der Fragesteller aus? Eine Musterlösung würde es offenbaren, aber die gibt es einstweilen noch nicht. Deshalb kann man nur auf eigene Faust spekulieren. Fangen wir also auf gut Glück bei der letzten, also der hundertsten Frage an: „Wie heißt die deutsche Nationalhymne, und mit welchen Worten beginnt sie?“. Der erste Teil ist simpel: „Deutschlandlied“![4]. Aber der zweite hat es in sich: Ich schweife zunächst ab, zurück zur eigenen Amtswaltung im Hamburger Landgericht: Als 74a-GVG-Kammer waren wir dort auch für allerlei wirkliche oder vermeintliche Umtriebe zuständig, so dass einst eine Ermittlungsakte auf meinem Schreibtisch lag, in der polizeiliche Fahnder gewisse Indizien dafür ausbreiteten, dass irgendwelche Leute sich rechtsradikal betätigt hätten, u.a. mit dem Hinweis, sie hätten in einer Gaststätte „die verbotene erste Strophe“ des Deutschlandlieds gesungen, also „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt ...“. Aber wieso verboten?

 

Rückblick: Der erste Präsident der Bundesrepublik, Theodor Heuß, hatte angesichts des Missbrauchs, den u.a. auch der Großdeutsche Rundfunk zur NS-Zeit mit der alten Hymne getrieben hatte[5], eine neue Nationalhymne dichten und vertonen lassen und deren Einführung dem Bundeskanzler Adenauer empfohlen; der blieb allerdings skeptisch. Ein Briefwechsel, den beide 1952 führten, endete damit, dass es beim Deutschlandlied als Nationalhymne bleiben sollte. Adenauer: „Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe (scil.: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ...“) gesungen werden“. Aber auch in dieser „verschlankten“ Gestalt erfreute sich die Hymne dann in den 70er und 80er Jahren keiner Beliebtheit, galt zumal in fortschrittlichen Medien als nationalistisch und wurde geflissentlich ignoriert. Wie unbekannt selbst die dritte Strophe geworden war, konnte man im November 1989 besichtigen, als bei einer eiligen Feier zur Maueröffnung in Berlin ein Teil der vor dem Brandenburger Tor aufgereihten Prominenz – den damals Regierende Bürgermeister Walter Momper eingeschlossen – die Zähne zum gemeinsamen Gesang der Hymne nicht auseinander bekam[6].

Nach der Wiedervereinigung gab es im August 1991 wieder einen Briefwechsel - zwischen Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl – mit dem sie die Tradition des „Liedes der Deutschen“ für das vereinigte Deutschland begründeten und bekräftigten: „Als Dokument deutscher Geschichte bildet es in allen seinen Strophen eine Einheit. ... Die 3. Strophe ... ist die Nationalhymne für das deutsche Volk“ ....

Das alles setzt meine oben erwähnten Indizien-Fahnder durchaus ins Unrecht: verboten ist auch der erste Vers des Deutschlandlieds keineswegs und war es niemals, weder vor noch nach der Wiedervereinigung. Aber diese Erkenntnis liefert uns noch nicht die Musterlösung zur Frage 100. Hier verlangen die Frager vom Einbürgerungskandidaten eine Interpretationskunst, die einem gestandenen Philologen alle Ehre machen würde – oder verlangen eher eine Sensibilität, die dem Deutschen erst zuwächst, wenn er einige Jahre mit gespitzten Ohren und gespannten Sinnen in diesem Lande gelebt hat. In einem ständig neu aufgelegten GG-Text[7] heißt es – sachlich zutreffend: „Die erste Strophe des Deutschlandliedes wurde, vor allem im Ausland, vielfach verkannt und missdeutet ...“. Nach den Maßstäben philologisch-historischer Interpretation des ebenso feinsinnigen wie wolkigen Weizsäcker/Kohl-Kompromisses wäre jede der beiden hier in Betracht kommenden Antworten vertretbar. Der Repetitor indessen wäre sein Honorar nicht wert, würde er dem Kandidaten für den Teil zwei der Frage 100 eine andere Antwort einpauken als die erste Zeile der dritten Strophe, denn nur mit ihr geriete er auf die politisch sichere Seite, während er mit „Deutschland, Deutschland ...“ sich nur das Odium des Chauvinisten aufladen würden.

A propos sichere Seite: Unter II. - Grundlagen deutscher Geschichte, deren Ziffer 9. mit Martin Luther beginnt - wird dann unter Ziffer 16 die Frage gestellt: „Wenn jemand den Holocaust als Mythos oder Märchen bezeichnet: Was sagen Sie dazu?“ Übergehen wir die Frage, wieso und weshalb dies in die Kategorie II eigentlich hineingehört und wenden uns gleich der Sache selbst zu. Die ist nämlich trickreich: Eine Entscheidung des Hamburger Strafrichters Albrecht Kob vom Januar 1995, nach welcher im Ausdruck „Mythos“ nicht notwendig auch eine Holocaust-Leugnung (wie im Ausdruck „Märchen“) liege und mithin (im damals gegebenen Falle) nicht strafbar sei, hatte die Hamburger Publizistik heftig erregt, die den Richter sogar als „Freisler“ (d.h. als NS-Blutrichter) beschimpfte. Dies wiederum hatte den Vorstand des Hamburgischen Richtervereins zu seiner Verteidigung auf den Plan gerufen[8]. Jetzt also soll der bedauernswerte Ausländer sich über Mythos, Märchen und Holocaust (den man wohl richtiger als „Shoah“ bezeichnen sollte) Klarheit verschaffen, um dann ein Bekenntnis zu formulieren, welches er einem gedachten „Unbelehrbaren“ entgegenschleudern würde. Dringt unser Ausländer schließlich zu „VIII. Kultur und Wissenschaft“ und der Aufforderung in Ziffer 88 vor, den Begriff „Meinungs- und Pressefreiheit“ zu erläutern, dann könnten Verwirrung und Verzweiflung komplett werden: Oben hatte er gelernt, dass man bestimmte Meinungen nicht haben oder jedenfalls nicht äußern dürfe, und jetzt soll er, wie es scheint, niederschreiben, Gedanken und Meinungen seien in Deutschland von verfassungswegen zollfrei. Vielleicht wird sein Blick nun zurückschweifen zu Frage Nr. 72 („Wie heißt das höchste deutsche Gericht?“), und wenn er die nötige Courage aufbringt, könnte er schreiben: „Ich will nichts weiter als nur ein Deutscher werden, nicht aber ein Bundesverfassungsrichter. Die hohen Herren werden schon irgendwie zusammenreimen, was in meinem armen Kopf nicht zusammen passt...“.

 

Eines Tages wird die Musterlösung auf den Markt kommen, ein findiger Kopf gräbt sie andernfalls irgendwie und –wo im Internet aus. Man darf gespannt sein.

 

Günter Bertram


[1] FAZ vom 16.03.2006: Einbürgerung: Die hundert Fragen. Diese werden in neun Rubriken wie folgt gegliedert:

I.   Deutschland und die Deutschen (Zi. 1.-8.),

II.  Grundlinien deutscher Geschichte (Zi. 9-30),
III.  Verfassung und Grundrechte (Zi. 31-47),
IV. Wahlen, Parteien, Interessenverbände (Zi. 48-54),

V.  Parlament, Regierung, Streitkräfte (Zi. 55-65),
VI. Bundesstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat (Zi. 66-74),

VII. Die Bundesrepublik Deutschland in Europa

     (Zi. 75-79),

VIII. Kultur und Wissenschaft (Zi. 80-97) und

IX. Deutsche Nationalsymbole (Zi. 98-100).

Auch Baden-Württemberg hatte Anfang des Jahres einen Gesprächsleitfaden entwickelt, von dessen 30 Fragen jedenfalls einige höchst befremdlich anmuten. So ist es schlechtweg unzulässig, vom Antragsteller eine Auskunft darüber zu verlangen, wie er auf die Homosexualität seines Sohnes reagieren würde. Das ist eine Zumutung! In ihr liegt eine evidente Diskriminierung, deren paradoxer Zweck es ist, die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien mit übergehorsamem Eifer zu vollstrecken (d.h. auch die rein persönliche Ablehnung der Homosexualität als EU-normwidrig zu verdammen).

[2] Leider ist diese Einsicht auch denen abhanden gekommen, deren Amt es wäre, die deutsche Sprache energisch zu fördern und sie zu verbreiten. So will Frau Prof. Jutta Limbach – jetzt Präsidentin des Goethe-Instituts – den Rückzug ihrer Institute jedenfalls für Westeuropa mit der Notwendigkeit rechtfertigen, anderswo in der Welt zu gewaltfreien Konfliktlösungen beizutragen (vgl. FAZ vom 13.04.06: Das Goethe-Institut zieht aus Europa ab; auch a.a.O. Projekte statt Strukturen – Europa ade: Jutta Limbachs Pläne für das Goethe-Institut). Nichts gegen die Friedensarbeit in unserer armen Welt! Aber um die müssen sich andere Leute – natürlich auch Deutsche! – im Zweifel auf Englisch oder in einschlägigen Landessprachen bemühen!

[3] Dass der Fragebogen juristisch überladen ist (III. - VII., also 50 Ziffern sind mehr oder weniger juristischer Art; auch noch andere Themen sind rechtlich befrachtet), sei nur angemerkt. Ob sämtliche Fragen schlüssig sind, lässt sich bezweifeln, dazu auch die Leserzuschrift der jungen Jurastudentin Yasemin Ayse Gülcan, Mainz, in FAZ v. 05.04.2006: „Was ist die richtige Antwort?“: „... Ich bin gern bereit, obwohl ich erst seit kurzem Deutsche bin, bei der Erstellung eines fehlerfreien Fragebogens mitzuwirken“. Auch seine sprachliche Fassung ist gelegentlich missglückt: keine gelungene Werbung für die deutsche Sprache!

[4] Die Frage 10 unter der Rubrik „Grundlinien der deutschen Geschichte“ hatte gelautet: „Welche Versammlung tagte 1848 in der Frankfurter Paulskirche?“  Zu den geistigen Wegbereitern dieser Frankfurter Nationalversammlung hatte auch Hoffmann von Fallersleben gehört, der sieben Jahre zuvor das dreistrophige „Lied der Deutschen“ zur Melodie Joseph Haydns gedichtet hatte, das der erste Reichspräsident der Weimarer Republik Friedrich Ebert zur republikanischen Nationalhymne bestimmte: hinfort Deutschlandlied.

[5] Immer wenn dort – z.B. nach „Sondermeldungen“ - das Deutschlandlied gespielt worden war, folgte ihm ohne Übergang ein NS-Kampflied, das textlich und musikalisch minderwertige sog. „Horst-Wessel-Lied“ („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert in ruhig-festem Schritt ...“), so dass beide zusammen im Gemüt schließlich wie ein Tandem haften blieben.

[6] Alles Nationale war im Laufe der Jahre unter Generalverdacht geraten, auch das Streben nach deutscher Einheit, verpönt selbst das Wort „Wiedervereinigung“: „Brandt schlägt das unsinnige Wort ‚Neuvereinigung’ vor“, notiert Walter Kempowski im Tagebuch vom März 1990 (vgl. FAZ v. 07.03.2006: „Hamit“).

[7] Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, Stand Juli 2002, S. 96

[8] vgl. MHR 1/1995 S. 21: Schamzerpörung; auch NJW 1995, 1270. Die amtsrichterliche Entscheidung war von der StA mit Berufung angefochten, aber von der Kleinen Strafkammer mit sorgfältiger Begründung bestätigt worden.