(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/08, 20 ) < home RiV >

UKRAINE

– eine nicht ganz befriedigende Reise nach Osteuropa

 

In der Zeit vom 16. – 22. Juni 2008 besuchte eine Delegation des Hamburgischen Richtervereins die Ukraine. Formell eingeladen hatte einer der Vizepräsidenten des Höchsten Wirtschaftsgerichts der Ukraine in Kiew, zugleich Vorsitzender eines Spruchkörpers an diesem Gericht. Vorausgegangen war ein Besuch ukrainischer Richter dieser besonderen Gerichtsbarkeit im September 2007, als sie sich durch Referate Hamburger Kollegen schwerpunktmäßig über das deutsche Insolvenzrecht und dessen Praxis informieren ließen. Davor wiederum lag eine Reise von Thomas Wehr im Frühjahr 2007.

 

Dieses Mal sollten beiderseits weitere Themen aus dem Handels-, Gesellschafts- und Verfahrensrecht behandelt werden. Wie sich aber herausstellte, konnten vor dem ganz unterschiedlichen Hintergrund der jeweiligen Rechtstradition und Rechtssprache die Vorträge die jeweilige Zuhörerschaft kaum erreichen, jenseits aller Übersetzungsprobleme. Mir stellte sich außerdem die Frage, ob dies überhaupt das primäre Motiv der Einladung war.

 

Kurz zum äußeren Ablauf:

Teilnehmer auf unserer Seite waren Gerhard Schaberg, Heiko Raabe, Markus Schneider, Helmut Büchel, Nicole Geffers, Katrin Bühring-Uhle und der Verfasser. Begleitet wurden wir von Cornelia Wölk, deren Kontakten und Sprachkenntnissen sich das ganze Austausch-Unternehmen verdankt.

Betreut wurde unsere Truppe – und zwar von früh bis spät! – überwiegend vom stellvertretenden Vorsitzenden jenes Spruchkörpers, der offenbar auch für die Organisation der gesamten Veranstaltung verantwortlich zeichnete. War er verhindert, traten andere ukrainische Kollegen an seine Stelle. Stets waren wir in fürsorglicher Begleitung und standen Fahrzeuge mit Fahrer zur Verfügung.

Der eigentliche Anlass der Reise beschränkte sich auf den Donnerstag; alles Übrige war im Grunde Rahmenprogramm. Dieses bestand aus einer Übernachtung in Kiew von Montag auf Dienstag, dem Weiterflug nach Donezk im – russisch dominierten –Südosten der Ukraine am Dienstag, einer Besichtigung des orthodoxen Höhlenklosters Svjatogorsk und einer Krimsekt-Kellerei in Artemivsk am Mittwoch, der Teilnahme an einem Festbankett am Mittwochabend, der Besichtigung des erstinstanzlichen Wirtschaftsgerichts und des Appellationsgerichts in Donezk und den Rückflug nach Kiew am Freitag und einer Stadtführung dort am Samstag. Dazu muss man sich täglich die üppigsten Mittag- und Abendessen in durchaus gehobenen Restaurants vorstellen, die man teilweise nur nach längerer Autofahrt erreichen konnte. Kurz, wir kamen aus dem Sitzen, Fahren bzw. Fliegen, Essen (und Trinken!), dem Halten und Anhören von Tischreden, Toasten etc. nicht heraus, ohne unhöflich zu sein – immerhin trugen ukrainische Stellen die gesamten Kosten unserer Reise bis auf den Hin- und Rückflug Hamburg-Kiew.

 

Im Kern des Geschehens stand das von den ukrainischen Kollegen in einem Hotel in Donezk ausgerichtete „Internationale Seminar“ „Verhandlung von Wirtschafts- und Handelssachen“. Zur Internationalität trug neben der unsrigen die Teilnahme eines Richters aus Moldawien bei; im Übrigen handelte es sich bei den Teilnehmern um Richterinnen und Richter der Wirtschaftsgerichtsbarkeit aus allen Bezirken und Instanzen. Für unsere Gastgeber war die Veranstaltung offenbar von großer Bedeutung, hatte man doch Funk und Fernsehen und die regionale Presse geladen und stellten wir uns in einer Pause zu einem Fotoshooting in der Hotelhalle auf.

 

Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen hatten bereits am Mittwoch intern getagt; am Donnerstag stießen wir sowie ukrainische Hochschuldozenten mit Referaten dazu. Diese wurden – in beide Richtungen – simultan und nach meinem Eindruck durchaus professionell übersetzt.

Was haben wir aus allem lernen können?

Allgemein: Verschiedenen Umständen, vor allem meinen „unkontrollierten“ Gesprächen mit unserem Übersetzer in Donezk, einem jungen Dozenten für deutsche Sprache an der dortigen Hochschule, und mit unserer Stadtführerin in Kiew, einer pensionierten Deutschlehrerin, aber auch manchen Andeutungen der Offiziellen, konnte ich entnehmen, dass sowohl eine deutliche Spaltung der dortigen Gesellschaft in Arm = Einflusslos und Reich = Mächtig besteht, als auch eine Spaltung in die nach Mitteleuropa orientierte ukrainischsprachige Bevölkerung im Westen des Landes und der eher moskautreuen Bewohner der Industriegebiete im Osten. Die Kernstadt von Kiew habe ich nach ihrer Bebauung, dem Straßenbild und urbanen Leben als mitteleuropäische Großstadt erlebt; die Randbezirke als ins Groteske getriebene Banlieues. Das eigentlich erst im 19. Jahrhundert als Stadt entstandene Donezk erscheint eher diffus; dort herrscht allerdings eine rege Bautätigkeit, so für den Neubau des Stadions von Schachtiar Donezk für die Fußballeuropameisterschaft 2012. Dörfer und Kleinstädte der Umgebung, die wir durchfuhren, wirken rückständig. Dazwischen finden sich immer wieder moderne und prunkvolle Gebäude.

 

Beruflich: Ganz klar geworden ist mir die Funktion der Wirtschaftsgerichte nicht. Entstanden sind sie wohl aus den Arbitragestellen, die – auch das gab’s damals – die Konflikte innerhalb der staatswirtschaftlich organisierten Unternehmen der früheren Sowjetrepublik Ukraine (Staatsunternehmen, Kombinate, Volkseigene Betriebe, Genossenschaften) regulierten. Offenbar stehen sie auch in Kompetenzkonflikten mit den neu entstandenen Verwaltungsgerichten. Sie sind ähnlich unseren Kammern für Handelssachen für Rechtsstreitigkeiten zwischen – privatisierten oder seit je privaten – Unternehmen, aber auch für Insolvenzverfahren zuständig. Die Gerichtsbarkeit hat drei Instanzen; das so genannte Höchste Wirtschaftsgericht steht aber noch unter dem Kassationshof der allgemeinen Gerichtsbarkeit und muss sich von diesem überprüfen lassen.

 

Die Rekrutierung und Ausbildung der Richter und ihre Unabhängigkeit werden auch in der Ukraine selbst als noch problematisch angesehen. Offenbar hat bisher nicht jeder Richter ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert; das soll verbessert werden. Richter kann vor allem werden, wer zuvor einige Jahre als Richterassistent tätig war – das schließt neben Vorarbeiten durchaus auch die Erledigung von Besorgungen und sonstigen privaten Angelegenheiten für den Richter ein! Unabhängigkeit wird durch solche Karrieren sicher nicht gefördert. In höhere Richterämter gelangt man ohnehin nur durch politischen Einfluss. Ob sie auch – wie Abgeordnetenmandate – käuflich sind, muss Spekulation bleiben.

 

Bei unserem Besuch des Donezker Wirtschaftsgericht legten die Gastgeber – unaufgefordert – größten Wert darauf, dass durch bauliche und durch Sicherheitsmaßnahmen das Publikum die Dienstzimmer der Richter nicht erreichen kann – offenbar ein Ausfluss der Besorgnis, Rechtssuchende könnten mit Erfolg unziemlichen Einfluss auf ihr Verfahren nehmen wollen. Gelegentlich klang durch, dass es im Zusammenhang mit Insolvenzverfahren auf Antrag des Fiskus unter Mitwirkung von Richtern zur Zerschlagung lebensfähiger Unternehmen gekommen war und dabei zur Übertragung von deren Vermögen auf neue Unternehmensträger ohne entsprechende Gegenleistung.

 

Die uns gewohnte Geschäftsverteilung durch ein gewähltes Präsidium stieß auf Unverständnis. Es verteilt die Gerichtsspitze unter Beachtung gleichmäßiger Belastung, aber auch der Eignung der oder des Betreffenden für den konkreten Rechtsfall.

 

Der Verfahrensgang selbst ähnelt dem uns gewohnten. Auf eine Klage findet eine Verhandlung mit den Parteien statt; Anwaltszwang besteht nicht. Rechtsanwälte spielen bisher auch keine große Rolle in der ukrainischen Justiz. Die recht kleinen Sitzungssäle wie auch die Bibliothek der beiden Gerichte haben wir besichtigt. Die Säle sind zweckmäßig gestaltet und möbliert, die Bücherei eher schwach ausgestattet – aber man kann nach nicht einmal 20 Jahren Privatrecht auch nicht unseren Kanon erwarten.

 

Befremdet hat mich, dass eine Beweisaufnahme in den Wirtschaftssachen kaum je stattfindet. Ausnahmsweise hört das Gericht einmal einen Sachverständigen an. Zeugen werden nicht vernommen; man entscheidet auf der Grundlage von „Dokumenten“ (die der Assistent bearbeitet). Die erstinstanzliche Verfahrensdauer ist mit durchschnittlich drei Monaten kurz, was bei diesem Vorgehen jedoch nicht verwundert.

 

Das Anfangsgehalt eines Richters soll bei US$ 1.000 liegen, das eines Präsidenten des Appellationsgerichts bei US$ 3.000. Steuern sind darauf nicht zu entrichten. Eine Dienstwohnung kann, soweit verfügbar, zusätzlich beansprucht werden. Was dieses Gehalt kaufkraftmäßig und in Relation zu den Durchschnittseinkommen darstellt, konnten wir nicht prüfen.

 

Persönlich:

Persönliche Freiheit musste man klein schreiben. Die fürsorgliche Belagerung rund um die Uhr und das teils stundenlange Tafeln gingen an die Grenze des Erträglichen. Wohltat wurde so zur Plage. Das Präsidium des Festbanketts erinnerte an das Treffen der „Freunde der italienischen Oper“ im Film „Manche mögen’s heiß.“ Da saß eine Riege erkennbar einflussreicher höherer Richter, die auch das Wort erteilten, an einem Tisch quer zum Saal, in dem schräg davor die langen Tische für die Teilnehmer des Seminars aufgestellt waren. Zwischen und während der Menügänge fanden Darbietungen statt, die künstlerisch gar nicht zu kritisieren waren (Tanzgruppen, Sänger, Kleinkünstler, zweifelhafter Höhepunkt allerdings: der Auftritt eines Tanzbären). Auch die Seminarteilnehmer – einschließlich der deutschen – tanzten. Eine Verständigung mit den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen war ohne Dolmetscher jedoch kaum möglich, weil sie nicht einmal rudimentäre Englischkenntnisse hatten; mit dem Kollegen aus Chişinău konnte man zumindest etwas französisch sprechen.

So blieb zwangsläufig nur ein oberflächlicher Eindruck vom „wahren“ Wesen des ukrainischen Richters.

 

Was haben die Gastgeber von uns lernen können?

Wie schon angedeutet, konnten wir unsere Rechtsordnung nur teilweise verständlich machen. Beispielsweise: Ob in der Ukraine neben den sicherlich vorhandenen Kapitalgesellschaften in nennenswerter Zahl Personenhandelsgesellschaften existieren, ist offen geblieben. Unsere fein ziselierten Vorschriften zur Kapitalaufbringung und -erhaltung in der AG oder GmbH, etwaige Sanktionen in der Insolvenz, aber auch die Regelungen des Markenrechts, sind in Funktion und Tragweite nicht verstanden worden. Umgekehrt habe ich etwa die Referate der Dozenten über bestimmte Fragen des ukrainischen Rechts zwar dank der Übersetzung verstanden, aber inhaltlich gar nicht einordnen können.

 

Ich glaube auch ganz unterschiedliche Motive der ukrainischen Gastgeber erkennen zu können. Bei einigen spielte das Lernmotiv schon die primäre Rolle, andere – höherrangige – schien vor allem die repräsentative Funktion einer solchen „internationalen“ Veranstaltung zu interessieren.

 

Fazit:

Für eine erfolgreiche Fortführung des aufwändigen Austauschs müsste beiderseits eine breitere Grundlage des gegenseitigen Verständnisses geschaffen werden. Vor allem müsste man auf unserer Seite wissen, an welche Rechtstradition die Ukraine anknüpfen will, welche – gelebte, nicht nur geschriebene – Privatrechtsverfassung gilt. Schon ganz einfache Dinge wie die schlichte Lektüre von wirtschaftsrechtlichen Entscheidungen der drei Instanzen könnten unsere Erkenntnis hervorrufen, wo den Rechtssuchenden in der Ukraine der Schuh drückt und an welcher Stelle wir rechtsvergleichend ansetzen könnten. Zudem müsste das Verhältnis des Kern- zum Rahmenprogramm umgekehrt werden. Auch wenn der Wodka geschmeckt hat: „na starowje!“ kann nicht im Vordergrund stehen.

 

Wolfgang Bernet