(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/09, 18 ) < home RiV >

Nachdem Niels Focken den nachstehenden Beitrag fertiggestellt hatte, hat Deutschland den von Focken beschriebenen Weg weiter ausgebaut. BMJ Zypries und ihr türkischer Amtskollege haben am 23.02.09 in Istanbul ein auf zwei Jahre angelegtes Arbeitsprogramm unterzeichnet. Es sieht einen Austausch der deutschen Experten zu folgenden Themen vor: Umsetzung der EU-Vorschriften, Berücksichtigung europäischer Rechtsakte durch die Justiz, Menschenrechtsschutz, Stellung der Justiz gegenüber den Medien, Rechtsschutz in Straf- und Zivilsachen sowie Schutz des geistigen Eigentums.

(Red.)

 

Im Auftrag der EU unterwegs

- Verbraucherschutzschulung in der Türkei -

Es begann mit einer Mail von Guido Christensen an alle Amtsrichter im Dezember 2004. Wer sich vorstellen könne, in der Türkei Schulungen zum Verbraucherschutz durchzuführen, möge binnen einer Woche einen englischsprachigen Lebenslauf an das zuständige Bundesministerium senden. Wie sich später zeigte, folgten ein halbes Dutzend Kolleginnen und Kollegen diesem Aufruf. Danach geschah lange Zeit nichts. Mittlerweile weiß ich, dass die Bewerbungen und Lebensläufe der „Experten“ zunächst nur dazu dienen, einem Mitgliedsstaat der EU (hier also Deutschland) eine fundierte Bewerbung um eine von der EU ausgeschriebene Schulungsmaßnahme zu ermöglichen. In diesen „Twinning“-Projekten geht es jeweils um ein bestimmtes Themengebiet, in dem Bedienstete eines EU-Beitrittskandidaten von „Experten“ aus einem EU-Mitgliedsland angeleitet werden sollen.

Nun, Deutschland erhielt den Zuschlag1, und im Frühjahr 2006 hieß es, wir könnten nun mit der Vorbereitung beginnen. Zweier-Teams (unter Einbeziehung „externer“ Juristen aus anderen Organisationen) sollten die türkische Provinz bereisen. Jeweils an zwei Orten sollten die Teams dabei türkische Verbraucherschützer schulen. Dabei ging es, wie sich zeigte, einerseits um die Festigung der Kenntnisse des türkischen Verbraucherrechts, andererseits um die Vermittlung von Konfliktlösungsstrategien. Teilnehmer der Seminare sollten nämlich in erster Linie die Mitglieder von Schiedskommissionen sein, die zur Schlichtung von Verbraucherstreitigkeiten landesweit in der Türkei eingerichtet sind.

Als rational denkender Jurist gerät man spätestens bei diesem Konkretisierungsgrad der „mission“ ins Grübeln, zumal sich zeigte, dass die teilnehmenden Hamburger Richter zwar hoch motiviert waren - deshalb hatten sie sich ja gemeldet -, dass sie aber in der Mehrheit dem Thema Verbraucherschutz beruflich eher fern standen. Könnte man, so fragt man sich, das von der Türkei und der EU gesetzte Ziel nicht besser und preiswerter erreichen, wenn man türkische Juristen mit den entsprechenden Schulungen betraute? Mittlerweile meine ich, dies verneinen zu können, wenn auch die Einbindung türkischer Juristen sicher wünschenswert gewesen wäre. Nicht vergessen darf man aber, dass unser Beitrag nur ein kleines Detail in einem Projekt von zweijähriger Dauer war, das keinen juristischen Schwerpunkt hatte und das deshalb auch nicht bei den Justizministerien der beteiligten Länder angesiedelt war. Ziel des Projekts war in erster Linie die Stärkung der örtlichen Verbraucherschutzorganisationen.

 

Zunächst musste durch uns „Experten“ kurzfristig die Frage geklärt werden, was türkisches Verbraucherschutzrecht eigentlich ist. Und hier verlor das Projekt schon einen Teil der bei oberflächlicher Betrachtung anzunehmenden Absurdität: Türkisches Verbraucherrecht ist die Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinien, denn – das war ja Anlass unserer Reise – die Türkei setzt nach und nach das gesamte EU-Recht um, um die Bedingungen für einen Beitritt zu erfüllen. In einem eigenen Verbraucherschutzgesetz, das uns in englischer Sprache vorlag, fanden sich also inhaltlich durchaus vertraute Regeln. Vom allgemeinen Schuldrecht konnten wir hingegen nur soviel erfahren, dass es im Wesentlichen dem schweizerischen Obligationenrecht entspricht. Mir selbst ist übrigens erst anlässlich der Türkei-Mission klar geworden, wie weit unser deutsches Zivilrecht von der EU bestimmt wird – und welche Vorteile dies dem europäischen Verbraucher gerade im Zeitalter des Internet-Handels bietet.

Obwohl oder gerade weil Richterpersönlichkeiten typischerweise ausgeprägte Individualisten sind, gelang es den Hamburger Türkeireisenden ganz problemlos, arbeitsteilig einen recht umfangreichen power-point-Vortrag zu entwerfen. Diese arbeitsteilige Vorbereitung war unbedingt erforderlich, weil Vorbereitungs- und sogar Reisezeit nach den Vergütungsregeln der EU nicht bezahlt wird. Honorar wird nur für die Tätigkeit vor Ort gezahlt – aber für einen mehrstündigen Stegreif-Vortrag ohne Vorbereitung war das Thema zu komplex.

Übrigens waren wir überwiegend doch sehr erleichtert, als wir erfuhren, dass wir zwar mit englischsprachigen Gesetzestexten arbeiten und einen kurzen „mission-report“ in englischer Sprache verfassen müssten, ansonsten aber auf eine Dolmetscherin vertrauen könnten.

Sehr bald ging es los. Das erste Zweier-Team hatte noch Gelegenheit, den anderen einen kurzen Reisebericht zu geben, dann starteten Guido Christensen und ich im Mai 2006 Richtung Gaziantep. Spätestens hier gerät ein solcher Bericht in Gefahr, aufgrund der eigenen Vorurteile eine (zu) subjektive Färbung zu erhalten. Ich kannte bisher nur Istanbul und hatte dort den Eindruck einer europäischen Mittelmeer-Metropole.

Was ist Gaziantep? Mittlerweile weiß ich, dass der Ort seit 5500 Jahren besiedelt und heute Millionenstadt ist. Gaziantep liegt relativ nahe an der syrischen Grenze, man könnte einen Tagesausflug ins syrische Aleppo machen. Wie sagte uns ein Gesprächspartner? „Das machen wir auch, es ist mit einem türkischen Pass jedenfalls einfacher, nach Syrien zu reisen, als nach Deutschland …“.

Wie sieht Gaziantep aus? Es hat als einzige bedeutende Sehenswürdigkeit eine Zitadelle und ansonsten eine auch mit Wohlwollen nicht malerisch zu nennende Altstadt (Prognose: Abriss). Dann gibt es einen modernen Teil mit den üblichen Geschäften (McDonald’s, H&M, …) und achtstöckigen Betonbauten, die überall stehen könnten. An der Hauptstraße steht eine Kirche, die zum Museum umgewandelt ist. Auf den Hügeln wachsen Trabantenstädte. Wir wohnten in einem Luxushotel.

Wir waren am Wochenende vor dem Seminar angereist und konnten morgens die mit Blasmusik begleitete Parade zahlreicher Amateurmannschaften auf dem Weg zu einem Sportfest im Stadion erleben. Abends wurde dann auf der Straße der Sieg einer Fußballmannschaft bei der türkischen Meisterschaft gefeiert. Die Anhänger bildeten einen Autocorso, der sich mit unbeschreiblichem Lärm, besetzt mit Fahnen schwenkenden Anhängern, immer wieder durch die Hauptstraße bewegte. Mittlerweile war unsere Dolmetscherin eingetroffen, die uns, obwohl ansonsten unerschrocken und handfest im Auftreten, mit folgenden Äußerungen überraschte:

-          Wie sprechen die denn hier? Das ist ja fast arabisch – das kann ich kaum verstehen!

-          Was habt ihr da gegessen? Östlich von Ankara isst man am besten gar nichts und trinkt nur Coca-Cola!

-          Wir müssen jetzt ’reingehen, die fangen gleich an zu schießen!

 

Das Seminar fand dann in den Räumen der örtlichen Handelskammer statt, mit technisch hervorragender Ausstattung und mäßig interessierten Teilnehmern. Dennoch konnten wir, als Exoten aus Deutschland, vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit erlangen und manche Fragen grundsätzlicher angehen als beispielsweise ein einheimischer Rechtsanwalt. Allein die Tatsache, dass wir Richter waren, wurde sehr positiv vermerkt. Türkische Richter, so hörten wir, achteten wohl sehr auf Distanz zum nicht-juristischen Volk. Dass gerade wir als Richter dort auftraten, machte Sinn, denn wir hatten es ja mit juristischen Laien zu tun, die funktional – als Schiedsleute – wie Richter tätig sein sollten.

Nächstes Vorurteil: Wie gelangt man von Gaziantep nach Adana (180 km durchs Bergland Richtung Mittelmeer)? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir nach dem anstrengenden Seminartag noch zu menschlicher Zeit unser nächstes Tagesziel erreichen würden. Nun, schon der gigantische Busbahnhof von Gaziantep (50 Bussteige? 100?) machte einen professionellen Eindruck, und mit einem fast leeren, aber mit drei Bus-Stewardessen bestückten Reisebus ging es über eine bestens ausgebaute Autobahn über lange Talbrücken und durch Tunnel in nur zwei Stunden nach Adana (für ca. 6,- €). In Adana hatte die türkische Projektassistentin dann leider ein Hotel für uns erwischt, das auch hart gesottenen Reisemängel-Experten die Tränen in die Augen treiben konnte. Dafür war die Seminar-Atmosphäre am nächsten Tag umso besser.

(Christensen 1. v.r.; Focken 3. v.r.)

Unsere Seminarveranstaltung fand in Adana mit der Aura eines Staatsbesuchs, begleitet von Presse und Fernsehen, in einem Parlamentssaal der Provinzregierung statt. Es bestätigte sich, dass der Erfolg eines Projekts in großen Teilen von den handelnden Personen abhängig ist. In Adana hatten die zuständigen Beamten in enger Zusammenarbeit mit der örtlichen Handelskammer den Verbraucherschutz zu einem großen Thema gemacht. Mit ansteckender Begeisterung berichteten unsere Gastgeber von Verbraucheraufklärung in großem Stil, beispielsweise durch Nutzung von Werbeflächen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das hatte auch schon zu steigenden Fallzahlen bei den Schiedskomitees geführt.

 

Die Schiedskomitees für Verbraucherstreitigkeiten sind landesweit in der Türkei eingerichtet, es gibt 851 davon. Sie bestehen jeweils aus fünf Personen: Vorsitzender ist der Provinzdirektor für Handel und Industrie (oder Vertreter), als weitere Mitglieder sind jeweils ein Vertreter der örtlichen Verbraucherschutzverbände und der Handels- bzw. Handwerkskammer (je nach Sachverhalt) zu nennen. Mitglied Nummer vier soll ein Rechtsanwalt sein – falls örtlich aufgrund fehlender Anwaltsschwemme nicht vorhanden, kann dieser durch einen Beamten ersetzt werden. Fünftes Mitglied ist ohnehin ein für Verbraucherschutz zuständiger Beamter.

Die Anrufung der Schiedskomitees ist bei kleineren Streitwerten (bis ca. 400 €) verpflichtend, bei höheren Streitwerten freiwillig. Gegen die Schiedssprüche kann Berufung beim zuständigen (ordentlichen) Verbraucherschutzgericht oder (in Ermangelung dessen) beim normalen Zivilgericht eingelegt werden. Die undankbare Aufgabe der Vorbereitung, Berichterstattung und Formulierung des Schiedsspruchs fällt einem nicht stimmberechtigten „Rapporteur“ zu, der aus der Beamtenschaft rekrutiert wird. Insbesondere diese „Rapporteure“ zeigten sich als aufgeschlossene und interessierte Gesprächspartner, die nach meinem Eindruck durchaus Gewinn aus der Veranstaltung ziehen konnten. Übrigens: Obwohl die Zusammensetzung der Schiedskomitees es nicht ahnen lässt, gewinnt in der überwiegenden Zahl der Fälle der Verbraucher (2004: in 84 % der Fälle2). Bemerkenswert erschien auch das starke finanzielle und organisatorische Engagement der Handelskammer für den Verbraucherschutz, das immer wieder durchschien.

Der Gewinn lag auch auf unserer Seite: Nicht nur, dass wir im Rahmen des Projekts insgesamt hervorragend betreut wurden – mit perfekter Organisation, hervorragender Dolmetscherin und „pannenlosem“ Ablauf. Nein, wir fühlten uns auch willkommen und konnten in Adana noch einen Abend voll Gastfreundschaft genießen, ohne protzigen Luxus, aber großzügig und herzlich. Peinlich wäre es gewesen, wenn wir uns nicht mit einer Kleinigkeit hätten revanchieren können.

Von Adana ging es mit dem Flugzeug nach Ankara. Im dortigen Ministerium für Wirtschaft und Verbraucherschutz hatten wir noch über die ÖRA zu referieren, da die türkische Projektleitung Interesse an dieser speziellen Art von Rechtsberatung und Schlichtung gezeigt hatte. In freundlicher Atmosphäre überraschte uns der türkische Projektleiter bei der Abschlussbesprechung mit einem Witz über Atatürk – nie hätten wir angesichts des in allen Amtsstuben mit einem Porträt präsenten Staatsgründers eine solche Lockerheit erwartet. Übrigens: während in Gaziantep nur eine von 30 Seminarteilnehmerinnen weiblich war, war die Frauenquote in Adana und Ankara nicht anders, als man sie in Deutschland erwarten könnte.

 

Ist die Türkei reif für den EU-Beitritt? Das lässt sich nach einigen Kurzbesuchen nicht sicher sagen. Ich bin nach meinen Türkei-Aufenthalten jedenfalls deutlich weniger skeptisch, als zuvor. Wirtschaft und Infrastruktur scheinen auf gutem Weg und nicht mehr weit entfernt von EU-Mittelmeerländern zu sein. Die Rechtsangleichung ist fast vollzogen. Mit der Mentalität unserer Gesprächspartner in Ankara und Adana dürfte es keine Friktionen geben. Für Gaziantep gilt das eingeschränkt. Letztlich dürfte die Antwort auf die Frage davon abhängen, welche Strömung in Zukunft die Entwicklung der Türkei bestimmt – welche Türkei also beitreten würde.

 

Niels Focken

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1 Von den 1177 Twinning-Projekten der Jahre 1998 bis 2004 (einschl.) konnte Deutschland rund ein Viertel (290 Projekte) als Projektführer gewinnen.

 

2 Bei einer Gesamtzahl von 38.476 Fällen, die zur Hälfte Beschwerden über Sachmängel zum Gegenstand hatten und zur anderen Hälfte Probleme mit Haustür- und Abzahlungsgeschäften.