(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/09, 24) < home RiV >

 Physik lehrt Demut

- Verschränkung -

 

Internetrecherchen sind manchmal ganz aufschlussreich dazu, was für wichtig oder für unwichtig gehalten wird. Zu richterlicher Demut gab es nur ein einziges brauchbares Internet-Ergebnis[1]:

„Richter … bleiben aber demütig und sagen sich nicht: ‚Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie jene‘ “[2].

Dieses magere Ergebnis sollte Anlass zum Nachdenken darüber geben, ob mehr richterliche Demut angebracht ist und hierüber auch in der laufenden Ethikdiskussion gesprochen werden sollte. Doch was ist Demut eigentlich?

 

Demut gibt es nicht als solche, sondern sie ist ein relativer Begriff in Abhängigkeit davon, wovor Demut geübt wird. Angesichts der konfessionellen Neutralität unserer Verfassung[3] geht es bei Richtern eher nicht um die religiöse Form der Demut, also um die Demut vor Gott.

Ganz allgemein betrachtet stammt das Wort von dem mittelhochdeutschen diomuoti („dienstwillig“, also eigentlich „Gesinnung eines Dienenden“). Richter sind Diener des Gesetzes. In diesem Sinne wäre die Demut vor dem Gesetz zu betrachten. Die heutige Abneigung gegen den Rechtspositivismus früherer Zeiten hat diese Demut zugunsten einer größeren Auslegungsfreude verringert; ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier nicht das Thema, denn jenes betrifft die rechtliche Bindung eines jeden Richters, während im vorliegenden Beitrag stärker die Demut als persönliche Eigenschaft in den Vordergrund gerückt werden soll.

Immanuel Kant definierte Demut ebenfalls als „Demut vor dem Gesetz“, meinte damit aber nicht eine bloße Gesetzesbindung, sondern ein „Bewusstsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz“[4]. Aus dem Kontext heraus verstehe ich das so, dass der Mensch im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit (insbesondere seiner Neigung zur Lüge) sich am Gesetz orientieren soll; also nicht nur „ich tu, was ich muss“, sondern darüber hinaus auch: „ich will, was ich muss“.

Auch diese Form der Demut soll im vorliegenden Beitrag nicht das Thema sein, denn bei Richtern darf man davon ausgehen, dass sie sich jedenfalls bei ihrer Amtsausübung am Gesetz orientieren. Hier geht es vielmehr darum, dass der Richter auch in der Art und Weise der Orientierung am Gesetz der Richter Demut walten lassen soll.

 

Der Richter soll bei der Ausübung seines Amtes ein „Bewusstsein seiner Unvollkommenheit“ haben[5]. Auch wer als Richter mit bestem Wissen und Gewissen nach der Wahrheit strebt, muss sich immer bewusst sein, dass der Weg zur Wahrheit mit Stolpersteinen gepflastert ist, zu denen auch die eigene Unvollkommenheit des Richters gehört. Zentrales Einfallstor dieser Art von menschlicher Unvollkommenheit ist die richterliche Würdigung von Beweisergebnissen und von Parteivortrag. Vorgebrachtes kann vorschnell in falsche Gedankenschubladen gesteckt werden:

  • Lasse ich mich vom Erscheinungsbild einnehmen („Dieser Mann macht doch einen guten Eindruck; der sagt bestimmt die Wahrheit!“)?

  • Orientiere ich mich zu stark am Wahrscheinlichen und lasse außer Acht, wie viel Unwahrscheinliches mir selber täglich widerfährt?

  • Behindern mich mein eigenes mangelndes Vorstellungsvermögen oder die Begrenztheit meiner eigenen Allgemeinkenntnisse („Das kann doch nur so sein: …“)? Ist der vermeintliche Widerspruch, dessentwegen ich dem Zeugen nicht glauben will, nicht möglicherweise doch erklärbar, und fehlt mir lediglich die erforderliche Vorstellungskraft?

 

An dieser Stelle soll der zweite Teil der Überschrift Bedeutung erlangen: die Physik. Sie bringt viele Dinge zum Vorschein, die mit unserem Alltagsvorstellungsvermögen nicht vereinbar sind. Das gibt uns immer wieder Gelegenheit, uns unserer strukturellen intellektuellen Unvollkommenheit bewusst zu werden.

Beispielhafter Anlass ist die diesjährige Preisverleihung durch das Max-Planck-Institut für Quantenoptik an Prof. Ignacio Cirac und Prof. Rainer Blatt für ihre Arbeiten zum Quantencomputer. Zur Herstellung eines solchen Computers bedarf es einer sog. „Verschränkung von Teilchen, die sich dadurch selbst bei noch so großer Entfernung voneinander wie ein (Gesamt-)Teilchen verhalten. Das ist ein Phänomen, das selbst Albert Einstein sich nicht vorstellen konnte (er sprach von „spukhafter Fernwirkung“), das aber inzwischen schon lange nachgewiesen ist.

Ein Quantencomputer[6] arbeitet - anders als ein klassischer Computer - mit der Überlagerung verschiedener Zustände, wodurch viele Prozesse parallel verlaufen können[7]. Das Problem ist, dass die Eigenschaften eines Quantencomputers durch eine Messung seiner Zustände verloren gehen[8]. Doch wie misst man etwas, ohne es zu messen?

Hier hilft die erwähnte „Verschränkung“ von Teilchen[9]. Verschränkte Teilchen haben wie gesagt „denselben“ Zustand – einerlei wie weit sie voneinander entfernt sind[10]. Misst man das eine Teilchen, so kennt man auch den Zustand des anderen Teilchens.

Um das an zwei Würfeln zu verdeutlichen: Nach einem Wurf zeigt jeder der beiden eine zufällige Augenzahl. Das gleiche würde man auch bei „verschränkten Würfeln“ beobachten. Während aber bei herkömmlichen Würfeln die beiden Zahlen unabhängig voneinander sind, ist die Summe von „verschränkten Würfeln“ immer gleich, egal wie weit sie voneinander getrennt sind. Würde man einen so verschränkten Würfel würfeln, so stünde im selben Augenblick – obwohl eine Information eigentlich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann - fest, welchen Wert der andere, weit entfernte Würfel hat (Einstein-Podolski-Rosen-Paradoxon[11]). Einsteins These, dass deswegen schon vor der Messung das Messergebnis festgestanden haben muss[12], wurde widerlegt. Es wird vielmehr beim Wurf des ersten Würfels überhaupt keine Information an den zweiten Würfel übertragen[13], sondern die beiden Würfel/Teilchen sind Bestandteile eines unteilbaren Systems - eines Gesamtteilchens. Solche Gesamtteilchen widersprechen völlig unserem Vorstellungsvermögen; und trotzdem sind sie real; technische Geräte bauen darauf auf.

Wolfgang Hirth

 


[1] Gesucht wurde nach „richterliche Demut“, nach „Demut vor dem Gesetz“ sowie nach ‚richterliche Ethik’ und ‚Demut’ “.

[2] Gedanken des NRV-Landesverbandes Sachsen zur richterlichen Ethik, NRV-Hessen-Info, Jan. 2004, 22

[3] z.B. Kruzifix-Urteil BVerfG NJW 1995, 2477; vgl. kürzlich auch zu einem italienischen Kruzifix-Fall EGMR, Urt. v. 3. 11. 2009 – 30814/06

[4] Metaphysik der Sitten, A94

[5] Nach Erich Fromm (Die Kunst des Liebens) ist Demut die der Vernunft und Objektivität entsprechende emotionale Haltung als Voraussetzung der Überwindung des eigenen Narzissmus (in diesem Anti-Hochmut-Sinne wohl auch NRV Sachsen, oben Fn. 2).

[6] Es handelt sich dabei um ein bislang nur im Labor geprobtes Konzept.

[7] Dazu bedient er sich eines physikalischen Systems mit 2 Basiszuständen eines zweidimensionalen komplexen Raums.

[8] Vergleiche auch die Heisenbergsche Unschärfe-Relation, nach der zwei Eigenschaften eines Elementarteilchens nicht beide genau bestimmbar sind.

[9] Es war der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger (1887-1961), der hierfür den Begriff „Verschränkung“ eingeführt hat.

[10] Die größte bislang festgestellte Distanz zwischen verschränkten Photonen beträgt 143 km.

[11] Das EPR-Paradoxon scheint außerdem der Heisenbergschen Unschärferelation zu widersprechen, denn es könnten zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig bestimmt werden (die eine direkt durch Messung am ersten Teilchen, die andere indirekt durch Messung am zweiten Teilchen).

[12] Hierzu ein Gedankenexperiment, das als „Schrödingers Katze“ berühmt geworden ist: In der Quantenmechanik ist es möglich, dass sich ein Teilchen in einem sog. Überlagerungszustand befindet, in dem es sich an keinem bestimmten Ort aufhält. Misst man nun den Ort eines Teilchens, so stellt man fest, dass es sich dann nur an einem einzigen Ort aufhält. Schrödinger hat gedanklich das Leben einer Katze mittels eines Detektors vom Überlagerungszustand eines Teilchens abhängig gemacht mit der Folge, dass der Zustand der Katze (tot oder lebendig) sich erst im Zeitpunkt der Betrachtung/Messung entscheidet.

[13] Dazu bedarf es eines gesonderten „Informationskanals“; dieser ist dann durch die Lichtgeschwindigkeit beschränkt.