(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/10, 19) < home RiV >

Videokonferenzen im Zivilverfahren

 – Wunsch und Wirklichkeit –

Neulich habe ich nachmittags auf den Gängen des Ziviljustizgebäudes einen verirrten Zeugen aufgelesen, der dann netterweise von einer ebenfalls noch anwesenden, eigentlich unzuständigen Kostenbeamtin „verarztet" wurde. Dieser Mann war Zeuge in einem Verkehrsunfall und seine Aussage dauerte nur „3 Minuten", wie er sagte, jedenfalls offenbar nicht sehr lange - und dafür musste er aus Freiburg/Breisgau anreisen und war insgesamt mehr als 16 Stunden unterwegs. Er war müde, genervt und fühlte sich als Bürger von der Hamburger Justiz nicht gut behandelt. Er fragte mich auf dem Weg zur Kostenbeamtin, wohin ich ihn sicherheitshalber begleitete, warum dies so sein müsse. Diese Frage konnte ich ihm ehrlich gesagt nicht beantworten. Denn sowohl Hamburg als vermutlich auch Freiburg oder zumindest Karlsruhe ganz in der Nähe haben Möglichkeiten der Videokonferenz; und die ZPO lässt das zu; es muss nur richterlicherseits angefordert werden. Auf seine Frage, warum dies dann nicht genutzt würde, wusste ich wieder keine Antwort. Aber ich habe ihm zugesagt, mich dafür einzusetzen, dass diese Möglichkeiten weiter bekannt gemacht werden.

Ergebnis dieser Begegnung ist dieser kurze Erfahrungsbericht mit der Frage: „Wie kann man den Kollegen Mut machen, diese bürgerfreundliche Möglichkeit mehr zu nutzen?“ Es klappt nämlich hervorragend, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Hier in Hamburg ist zuständig die IT-Abteilung des Landgerichts. Auch diese war indessen über meine erste Anfrage überrascht und der Mitarbeiter sagte: „Ich dachte, das geht nur in Strafverfahren.“ Nein, schon seit beinahe 10 Jahren erlaubt § 128 a ZPO Verhandlungen und insbesondere auch Beweisaufnahmen im Wege der Videokonferenz, konnte ich ihm erklären.

Die Videokonferenz-Technik ermöglicht zeitgleiche Bild- und Tonübertragungen zwischen zwei und mehreren Räumen. Die Anlagen verwenden Kameras und Mikrofone als Eingabegeräte sowie Bildschirme und Lautsprecher als Ausgabegeräte. Bild und Ton werden in Echtzeit übertragen.[1] Die Technik ist inzwischen so ausgefeilt, dass Verzögerungen nicht mehr auftreten.

Die Bedenken in der Literatur erscheinen mir wirklichkeitsfremd und auch dogmatisch nicht stichhaltig. So werden Fragen gestellt wie:

„Kann die Kamera erkennen, ob der auswärtig vor ihr aussagende Zeuge mit der linken Hand nach hinten ‚abschwört‘? ob er von einem ‚Teleprompter‘ abliest, sonstige stumme Zeichen aus dem dortigen ‚Off‘ erhält?“

oder:

„Die Befürchtungen, dass der persönliche Eindruck, den das entscheidende Gericht von der Beweisperson bei einer Videovernehmung gewinnt, nicht von gleicher Intensität und Qualität ist wie bei persönlicher Anwesenheit im Gerichtssaal, ist aber nicht von der Hand zu weisen.“[2]

Zu den praktischen Problemen ist zu sagen: Diese lassen sich durch technische und organisatorische Vorkehrungen minimieren. Eine gute richterliche Fragetechnik kann bewusste Lügen zumeist aufdecken, denn folgerichtiges Lügen ist enorm komplex. Außerdem wird der Wert des Beweismittels Zeuge regelmäßig überschätzt. Wer das nicht glauben mag, ist herzlich eingeladen, einen kleinen Film anzusehen, den ich regelmäßig den Referendaren während der Ausbildung zeige. Gegenüber anderen ebenfalls zulässigen Formen der Beweiserhebung wie der kommissarischen Vernehmung und der nunmehr ebenfalls statthaften freien Beweisaufnahme gemäß § 284 Satz 2 bis 4 ZPO, eingeführt durch das 1. JuMoG Ende 2005, wiegen die gegen die Videokonferenz genannten Bedenken verglichen mit diesen weitergehenden Möglichkeiten der fehlenden Unmittelbarkeit deutlich weniger schwer.[3]

Also: Die Technik ist parat und funktioniert inzwischen stabil und verzögerungsfrei, Sie müssen sie nur nutzen!  

Was also ist im Einzelnen zu tun? Es sind nur wenige Schritte erforderlich:

1.

Es ist zu unterscheiden, ob die Anwälte nicht kommen wollen, dann müssen sie einen Antrag stellen (§ 128a Abs. 1 ZPO), den man ja aber auch anregen kann, oder ob es um einen Zeugen, Sachverständigen oder eine Partei geht; dann braucht es nur das Einverständnis der Parteien und keinen Antrag (§ 128a Abs. 2 ZPO)! Da die Parteien ein Interesse am zügigen Fortgang des Verfahrens haben, wird dieses zumeist erteilt werden.

2.

Dann ist zu klären, welche Gegenstelle in der Nähe des Wohnortes der zu vernehmenden Person vorhanden ist. Dabei hilft einmal mehr der Europäische Gerichtsatlas für Zivilsachen[4]. Dort findet man unter der Registerkarte Beweisaufnahme auch die in Deutschland zuständigen Zentralstellen als ersten Ansprechpartner. Manche Bundesländer haben dafür in ihrer Justiz sogar eine eigene Internetseite, so zum Beispiel Sachsen[5] unter dem Stichwort Videokonferenztechnik. Üblicherweise wird die Geschäftsleitung des nächstzuständigen Wohnort-Gerichts Auskunft geben können. In Fällen des § 128a Abs. 1 ZPO wird man den betreffenden Parteivertretern die Auflage machen können, für die notwendigen technischen Voraussetzungen zu sorgen.[6]

3.

Als nächstes gilt es, mit der Technik beider Gerichte einen Termin abzuklären. Wenn die Videokonferenz nicht gleich am nächsten Tag stattfinden soll, sondern im üblichen Terminierungsabstand, stellt dies in der Regel kein Problem dar. Es empfiehlt sich, diesen Termin mit den Prozessbeteiligten ebenfalls abzustimmen, um Verlegungsanträgen vorzubeugen.

4.

Sobald der Termin steht, sind die Prozessbeteiligten zu laden. Dabei ist darauf zu achten, dass die per Videokonferenz zu vernehmende Person, zum Beispiel der Zeuge, dann eben nicht nach Hamburg, sondern beispielsweise in meinem Fall in das Landgericht Görlitz geladen wird.

5.

Am Tag zuvor empfiehlt sich eine Testschaltung, die die technischen Abteilungen in der Regel eigenständig durchführen. Man sollte aber um eine kurze Mitteilung bitten.

6.

Am Tag der Konferenz findet die Verhandlung wie gewöhnlich statt; der einzige Unterschied ist, dass nicht alle Beteiligten in einem Raum sind. In meinem Fall waren das Gericht und die Parteivertreter in Hamburg im Saal, die Zeugin saß in Görlitz. Dort war außer ihr nur noch ein Mitarbeiter der Gerichtsverwaltung anwesend.

Möglich und nach der § 128a ZPO statthaft ist sogar auch folgendes Vorgehen, denkbar beispielsweise in internationalen Handelssachen: Das Gericht tagt an seinem Verhandlungsort. Außer den Richtern ist niemand im Sitzungssaal. Auf Knopfdruck wird eine Verbindung mit dem Videositzungssaal eines oder mehrerer anderer Gerichte hergestellt. Hier befinden sich bereits die Parteien mit ihren Anwältinnen oder Anwälten, sowie eventuell auch noch die Zeugen und Sachverständige. Die Richter sehen die Prozessbeteiligten auf dem oder den Bildschirm(en) vor sich. Diese wiederum sehen das Gericht ebenfalls auf dem Bildschirm über dem an ihrem Ort leeren Richtertisch. Nur ein Wachtmeister sorgt hier jeweils für den reibungslosen technischen Ablauf.

Was ändert sich, wenn es um eine Beweisaufnahme im Europäischen Ausland geht? Nicht viel, nur die Vorteile nehmen zu. Der Einsatz von Videoanlagen ist in Verfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen noch viel besser geeignet, zu deren Vereinfachung und Beschleunigung beizutragen. Hier hilft bei der praktischen Umsetzung gut der im Dezember 2009 an alle Richterkollegen verteilte praktische Leitfaden der Kommission.[7] Im Hinblick auf die Zuständigkeit ist hier insbesondere § 1074 ZPO zu beachten.

Abschließend möchte ich noch auf eine hochaktuelle Mogelpackung des Bundesrates hinweisen. Offiziell heißt es zwar zu dem am 12.02.2010 beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren[8]: „Der Gesetzentwurf erweitert konsequent die Möglichkeiten der Nutzung von Videokonferenztechnik in den Verfahrensordnungen für die unterschiedlichsten Beteiligten.“ Bei genauem Lesen wird indessen deutlich, dass der Bundesrat damit in Wahrheit die Frage des Ob, also die Entscheidung, wann eine Videokonferenz durchgeführt werden soll, durch die Hintertür den Richtern wegnehmen und den Landesjustizverwaltungen übertragen will[9]. Dagegen hat der DRB bereits 2008 berechtigte Einwände erhoben. Wie hier – nicht zum ersten Mal - versucht wird, die richterliche Unabhängigkeit zu untergraben, ist schärfstens zu kritisieren. Einmal mehr wird das Argument der Kassenlage missbraucht, um Einfluss auf richterliche Arbeitsbedingungen zu nehmen. Ein weiterer Grund für mich, alle Richterkollegen und -kolleginnen zu ermutigen, von der Möglichkeit der Videokonferenz möglichst rasch und rege Gebrauch zu machen. 

Sabine König


[1]  Der nächste technische Schritt werden sicherlich in naher Zukunft internetbasierte Webkonferenzen sein.

[2] Vgl. so Hartmann, NJW 2001, 2577, 2583 sowie Musielak, ZPO, 7. Aufl. 2009, § 128a, Rn. 6 f.

[3] Wörtlich heißt es in § 284 Satz 2 ZPO: „Mit Einverständnis der Parteien kann das Gericht die Beweise in der ihm geeignet erscheinenden Art aufnehmen.“ Es ist danach prinzipiell statthaft, telefonisch Zeugen befragen, bei Sachverständigen nachfragen sowie auch per E-Mail zu korrespondieren. Das Gericht darf und muss technisch notwendig dabei regelmäßig davon absehen, sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Beweismittel zu verschaffen.

[6] Statthaft ist nach dem Wortlaut der Norm auch eine Nutzung von Drittanbietern, wie es sie in allen größeren Städten mittlerweile gibt. Diese bieten in der Regel eine mindestens ebenso hohe Datensicherheit wie die Justiz selbst, da sie anderenfalls im Geschäftsleben keine Marktchancen hätten.

[7] Falls gerade nicht zur Hand, die Broschüre ist zu finden auch unter: http://ec.europa.eu/civiljustice/publications/docs/guide_videoconferencing_de.pdf . Eine grundlegende Einführung zusammengefasst in einem Leitfaden findet sich unter http://ec.europa.eu/civiljustice/evidence/evidence_ec_guide_de.pdf

[8] Siehe Bundesratsdrucksache 902/09.

[9] Wörtlich heißt es in der Begründung: „Die Öffnungsklausel des Artikels 9 enthält eine Verordnungsermächtigung für Bundesregierung und Landesregierungen, um die Möglichkeiten, die das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik eröffnet, dem Gestaltungsspielraum der Justizverwaltungen zu unterwerfen. Dabei obliegt es dem Ermessen, die Zulassung auf bestimmte Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie einzelne Verfahrensarten zu beschränken.“ Deswegen hat der DRB auch Einwände erhoben, vgl. die Stellungnahme des DRB zum vorausgegangen, gleichlautenden Entwurf aus 2007 - BR-Drs. 643 /07 aus Januar 2008, www.drb.de/cms/index.php?id=456 .