(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/92) < home RiV >
"Recht ist Wahrheit /
Wahrheit ist Recht"

Wer kennt nicht diesen Spruch, der sich für viele von uns mit der aufgeregten Beklommenheit seiner juristischen Staatsprüfungen verbindet? Und dann hat mancher von uns, selbst Prüfer geworden, so manchen lieben Examenstag das Epigramm im Rücken gehabt. ...

In einer Dankesrede zur Verleihung der Emil-von-Sauer-Medaille hat Herr Dr. Jan Albers, Präsident des Hamburgischen OVG i.R. über den Spruch folgendes gesagt:

... Damals, 1949, sahen die Kandidaten noch das große Gruppenbild "Sieveking und seine vier Senatspräsidenten" von Kalckreuth vor sich, das in den fünfziger Jahren einen neuen Platz im Flur fand. Seitdem fallen die Blicke der Kandidaten (und der Hörer) wieder auf den Spruch "Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht."

Dieser Spruch gibt Rätsel auf: Mein unvergessener Lehrer Helmuth Brauer pflegte zu sagen, der Spruch sei ohne jeden Sinn, weil er unzulässigerweise das Sollen mit dem Sein gleichsetze. Was der Spruch aussagt, ist in der Tat schwer zu verstehen. Deshalb lohnt es sich, sich mit ihm etwas näher zu befassen.

Wie es zu der Inschrift gekommen ist, ließ sich mit Hilfe des Staatsarchivs leicht feststellen: in der einschlägigen Akte der Justizverwaltung findet sich ein Schreiben an die Baubehörde, in dem aufgrund einer Anfrage der Architekten Lundt & Kallmorgen mitgeteilt wird, daß als Spruch für den Plenarsaal "der aus einer alten deutschen Spruchsammlung stammende Spruch 'Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht' geeignet erscheine." Auf dem Konzept ist vermerkt: "Entnommen aus Johannes Agricola von Eisleben, Dreyhundert gemeyner deutscher Sprüchwörter, Nürnberg 1529.8". Agricola, Schüler und Weggenosse Luthers, ist der Herausgeber der ersten deutschen Sammlung dieser Art, die er in mehreren Ausgaben bis 1534 auf insgesamt 750 Sprichwörter und Redewendungen erweiterte. Schlägt man diese Sammlung auf, so sucht man unseren Spruch zunächst vergeblich: er befindet sich nicht unter den 750 Sprüchen und taucht auch in Agricolas Registern nicht auf. Auf die Spur bringt den Suchenden das dickleibige Werk "Deutsche Rechtssprichwörter, unter Mitwirkung der Professoren J.C. Bluntschli und K. Maurer gesammelt und erklärt von Eduard Graf und Mathias Dietherr", das 1864 im Beck-Verlag erschienen ist: hier ist die Fundstelle bei Agricola angegeben. Schlägt man dort nach, so trifft man auf den Spruch Nr. 63: "Was hundert jar unrecht ist gewesen/das ward nie kein stunde recht." Diesen Spruch hat Agricola erläutert, und damit sind wir am Ziel:

Recht bleybt alle zeyt und ewig recht/es kan auch nicht

unrecht werden/und wenn es vil tausent jar für unrecht

ist gehalten. Diß ist eine starcke erfarung/wie die

warheit alle zeyt obsiget/denn recht ist warheit/warheit

ist recht. Recht ist das/das wedder Gott noch menschen/

wedder vernunfft noch menschliche natur taddeln kan.

..... Es kompt aber unterweilen/das man mit gewalt/den

andern überfellet/und wo einer das seine nicht so gar mit

gewalt verteydingen kan/und muß faren lassen/so alle

giret man praescriptionem/das die lange zeyt/dem der da

recht hat/sein recht nimpt/und gibts dem/der unrecht dazu

hat. Widder diesen brauch schreyet die warheit/und

sagt/Es helffe kein praescription/kein lange zeyt/und

wenn es auch vil tausent jar weret/So kan doch die

zeyt und kein creatur billichen/das recht sol unrecht

sein/der zeyt halben. Was recht ist gewesen zu Adams

zeyten/das ist und bleibt recht biß an jüngsten tag/ja

wenns gleich alle welt für unrecht helt."

Agricola zielt mit diesen Ausführungen - das wird an seinen folgenden Beispielen aus der Bibel und der Kirchengeschichte noch deutlicher - mit seiner These "Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht" nicht auf das steten Änderungen unterworfene gesetzte Recht. Er hat vielmehr das unabänderliche Recht vor Augen, das er ius divinum genannt hätte und das wir Naturrecht oder unveräußerliches Menschenrecht nennen würden. Diese Zielrichtung wird noch klarer, wenn wir die dem Theologen Agricola vertraute Bibel heranziehen, die an vielen Stellen von den Geboten, den Gesetzen und den Weisungen Gottes spricht. Hier findet sich dann auch die Gleichsetzung des göttlichen Rechts mit der Wahrheit. Bei Jesajas (45,19) steht: "Ich bin der Herr, der die Wahrheit spricht und der verkündet, was recht ist." Und in Psalm 119 Vers 142 heißt es in Luthers Übersetzung "Dein Gesetz ist Wahrheit" (ebenso in der Vulgata "lex tua veritas"). Den wahren Sinn dieser Stelle verdeutlicht der römische Psalter (1945) mit den Worten "lex tua firma", was Romano Guardini in seinem Deutschen Psalter mit "unerschütterlich in dein Gesetz" wiedergibt.

Das mit unserem Spruch Gemeinte läßt sich zwar nicht unmittelbar aus seinem Wortlaut, wohl aber aus dem Sinnzusammenhang herleiten, in den er von Agricola gestellt worden ist. Sein Sinn läßt sich vielleicht am ehesten mit folgenden Worten wiedergeben:

Das Recht ist unerschütterlich wie die Wahrheit,

die Wahrheit ist unwandelbar wie das Recht.

Ich gebe zu, daß der zweite Teil auch in dieser Deutung nicht so recht befriedigt. Daß Agricola selbst seine Formulierung so verstanden hat, wird aber von ihm selbst bestätigt: in seiner Erläuterung des Spruchs Nr. 96 ("wer recht tut/der wird es finden") sagt er:

"Droben ist gesagt, recht bleibt recht, warheyt bleibt

warheyt."

Meine Damen und Herrn, lassen Sie mich zum Schluß an den Anfang meiner Betrachtungen zurückkehren. Als die Kriegsgeneration der Referendare, zu der ich gehöre, in erschütternder Eindeutigkeit erfuhr, was in den Jahren vor 1945 wirklich geschehen war, beherrschte uns alle wohl der Gedanke: nie wieder ! Nie wieder durfte es geschehen, daß das Recht - von dem der Spruch vor Ihnen kündet - verdreht, mißbraucht und mit Füßen getreten wird!