(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 3/93) < home RiV >
Über das Aufräumen

Wer kennt nicht den Seufzer der Erleichterung, der sich tiefer Brust entringt, wenn ein langer Prozeß sein Ende gefunden, ein wohlgestrickter Vergleich einer verqueren Punktensache den Garaus gemacht hat, wenn - kurzum - die sauren Mühen von Wochen, Monaten oder gar Jahren ihre gültige (und sei es auch nur "vorläufig endgültige"!) Gestalt gewonnen haben im schriftlichen Urteil oder in sonstigen Verkörperungen (vielleicht einer gewichtigen Anklage), über denen das Banner "geschafft! Schluß! fertig!" weht. Dem Aufatmen folgt, nachdem man das Dienstzimmer alsbald vom Chaos der Akten, Beiakten und von sonstigen amtlichen Verfahrensrelikten befreit hat, ein Entsorgungsprozeß besonderen Charakters. Noch einmal fällt das Auge auf den flutenden Wust eigener Werke, die leitzordnerfüllenden Arbeitskopien, textgemarkten Ausdrucke, die Tabellen, Synopsen, persönlichen Hieroglyphen, und noch ein letztes Mal auf die sieben- und achtfach durchgearbeiteten Merkzettel, die in bewegten Hauptverhandlungen zuweilen als Rettungsanker und Leuchtbojen willkommene Dienste geleistet hatten. Dem Befreiungsdrang

- "hinweg, fort mit dem nutzlosen Zeug!" - weht dann vielleicht dennoch ein kleiner Hauch nostalgisch-hemmender Pietät entgegen, hängt doch soviel Erinnerung an manchem Papier - ein Seelenbestand, der ohne seine materiellen Stützen für immer im Reißwolf verschwinden wird...... Sollte man also nicht doch dies und das, jedenfalls ein kleines Bißchen davon retten?! Natürlich setzt sich das Leben, setzen sich das überwältigende Gefühl der Befreiung und die andrängenden neuen Aufgaben und Ansprüche durch, und wir machen - früher oder später (meist sofort!) -TABULA RASA. Dies ist - sozusagen - das "kleine Aufräumen".

Der gleiche - genauer: ein analoger - Vorgang spielt sich, wie mir scheint, bei anderen Zäsuren im beruflichen Leben stets von neuem ab: Wer die Abteilung oder Kammer, die Dienststelle oder auch nur das Zimmer wechselt, gar Zivil- und Strafjustiz gegeneinander eintauscht, zur Behörde wandert oder daher kommt, auf Abordnung geht "in den wilden Osten" oder zum Provisorium am Rhein, dem bleibt gar nicht erspart, mit kräftigen Armen und entschlossenem Mut aufzuräumen und wegzuwerfen.

Das "große Aufräumen" rückt endlich mit der Pensionierung heran - es sei denn, man läßt dann einfach die Kelle fallen, gewissermaßen stante pede, flieht davon und überläßt es dem Amts-Erben, mit einigen Zentnern vergilbenden Papiers irgendwie (dann aber natürlich ohne jede Pietät!) fertig zu werden......

Im übrigen kann man über dieses letztmalig amtliche Aufräumen Allgemeingültiges kaum sagen: einer geht freudig, leicht und mit beschwingter Seele; den anderen drücken Trennung und Verlust schier zu Boden; und man geht kaum fehl mit der Vermutung, daß die durchaus gegensätzlichen Elemente oft im Gemenge liegen. Die Psychologie der Pensionierung hat vor Jahren, anläßlich seiner eigenen selbstgewählt-vorzeitigen Pensionierung, unser Kollege Wolfgang Schneider auf einem Pensionärstreffen des Hamburgischen Richtervereins trefflich begrübelt (MHR 1/89 S. 12).

Damit ist die - oben ohnehin gar zu künstlich gezogene - Schranke zwischen Dienstbetrieb und "privatem Leben" längst eingerissen. Wenn wir als Schulkinder am Jahresende die ausgedienten Hefte fortwarfen nebst anderen Insignien der abgetanen "alten Klasse", so war das eine frühe Stufe, die kindliche Form einer Lebensdialektik, die fürderhin in Kraft und Geltung bleiben sollte. Wenn wir heute überlegen, welchen Krempel wir dereinst unseren Kindern, Enkeln und Erben überlassen, und was wir ihnen vielleicht (kraft rechtzeitigen Aufräumens) ersparen könnten -z.B. 10 kg Ferien-DIAS, die niemanden noch wirklich interessieren werden -, dann richtet der Blick sich auf die letzte Stufe. Wirklich die letzte? Wer kann sich eines Wissens darüber berühmen?

Die Kollegin Ingrid Horstkotte hat vor einigen Jahren in einer Betrachtung über ihren eigenen beruflichen Wechsel hier im Mitteilungsblatt ein paar Zeilen aus Hermann Hesses "Stufen" zitiert. Nun will ich meine Glosse nicht mit Trittbrettfahrerei schließen, indem ich einfach darauf Bezug nehme; gleichwohl lehne ich mich dort an, indem ich ein paar andere Verse des Gedichts zu Gehör bringe, die - was ja den Zauber der Poesie ausmacht - das Lebensgesetz schöner, kürzer und viel prägnanter ins Wort bringen, als sachlich-reflektierende Prosa es vermag:

"... Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen ..."

Günter Bertram