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Samuel Ludwig Mittelstaedt

Der pensionierte Kollege Dietrich Otto schrieb der Redaktion wie folgt:

Eigentlich wollte ich ja etwas anderes für die MHR beitragen; aber der Vortrag von Herrn Münzberg weckte in mir andere Erinnerungen. Mein alter Geschichtslehrer "Teddy" Elsner in Blankenese pflegte immer zu sagen: Alles schon einmal dagewesen.

Ich entsann mich meiner Arbeiten zum 100jährigen Jubiläum des Amtsgerichts Altona im Jahr 1967. Als am 1. September 1867 die Gerichte in der nun preußischen Provinz Schleswig-Holstein ihre Pforten öffneten, geschah schon einmal das, was jetzt in Ostdeutschland sich wiederholte: Von einem Tag zum anderen trat ein neues Rechtssystem in Kraft, fremde - preußische - Beamte nahmen ihren Dienst auf. Aus welchen persönlichen Gründen hatten sie sich entschieden, sich versetzen zu lassen? Wie klappte die Organisation der neuen Behörden? Wie stand es mit der Fortbildung der übernommenen alten Beamten? Standen ihnen wenigstens Gesetze zur Verfügung? Alles Fragen, die Herr Münzberg für Mecklenburg-Vorpommern auch ansprach.

Wir besitzen "Die Lebenserinnerungen des Otto Samuel Ludwig Mittelstaedt", als Manuskript gedruckt 1938, ein Exemplar im Staatsarchiv Hamburg unter der Katalog-Nr (A 762/62-5). Mittelstaedt war der erste Staatsanwalt in Altona, der aus Altpreußen kam. Wenig später wurde er Staatsanwalt, dann Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, und noch später Reichsgerichtsrat.

Er hat uns ein sehr anschauliches Bild von den Verhältnissen 1867 in Altona hinterlassen. Ich glaube, ein Nachdruck - in mehreren Folgen - würde sich in der MHR lohnen. Als fleißiger Pensionär habe ich die ersten Seiten abgeschrieben und natürlich auch gespeichert, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern.

Als erste Kostprobe heute:

 
Warum kam Mittelstaedt nach Altona?

Anfangs 1867 wurde ich allendlich mit 800 Taler Gehalt etatmäßiger Staatsanwalt am Stadtgericht in Berlin. Sieben volle Jahre waren darüber hingegangen, seit ich nach Absolvierung dreier oder richtiger vier juristischer Staatsexamina im März 1860 Assessor geworden, vierzehn Jahre, seit ich im April 1853 das juristische Studium begonnen. Diese ganze lange Leidens- und Prüfungszeit hatte ich mich durchgeschlagen, erst auf der Universität unter den unsichersten, dürftigsten Verhältnissen des Unterhalts mit Hilfe von Stipendien, Verwandtenunterstützungen, spärlichen Zuschüssen aus der Eltern Tasche, dann als Referendar unter ziemlich ähnlichen Lebensbedingungen, mit der Feder ein wenig dazu verdienend, schließlich als Assessor, die letzten Jahre auf 40 Taler und 50 Taler widerruflicher monatlicher Diäten angewiesen... Aber heiterer wird die Lebensanschauung unter solchen unablässigen materiellen Sorgen und Bedrängnissen auch nicht. Das ewige Überlegen und Vorausbedenken, wie weit die Geldmittel wohl reichen, ob diese oder jene Ausgabe notwendig oder entbehrlich oder allenfalls noch aufschiebbar, macht einen zuletzt elend und verdrossen, zumal wenn man ein empfindliches Ehrgefühl besitzt und jede Abhängigkeit wie die Sünde scheut. Noch heute ertappe ich mich oft genug bei geringfügigen Anschaffungen trotz wohlgefüllten Geldbeutels und gesichertster Subsistenzmittel auf der ängstlich rechnenden Stimmung des jedes Glas Bier pekuniär abwägenden armen Studenten. Es ist immer eine Art geistigen Mutes erforderlich, um mich zum leichten, sorglosen Geldausgeben zu zwingen. Dabei bin ich von Natur viel eher zum leichten Lebensgenuß und zur Gleichgültigkeit gegen den Besitz, als zum Geiz oder zur Entsagung veranlagt. -

Aus derartigen Stimmungen erwuchs der Gedanke, mich mit Frau und Kind aus der bedrückenden Lage des Berliner Amtsdaseins in auskömmlichere Verhältnisse zu retten. Soviel anregender Menschenverkehr uns umgab, gehörte doch die äußerste wirtschaftliche Kunst der sparsamen Hausfrau dazu, auch nur den Schein eines wohlgeordneten gastlichen Hauswesens aufrechtzuerhalten. Alle Konnexionen des Polenprozesses, der Stuttgarter Mission, der "politischen" Staatswanwaltschaft aufs höchste eskomptiert, welche Karriere winkte mir in Berlin? Allmähliches Hinaufklettern in der Hierarchie der Staatsanwaltschaft, völliges Verbrauchtwerden in der abhängigsten Kommistätigkeit, vielleicht am Schluß der vortragende Rat im Justizministerium mit seiner lebensmüden Exzellenz, auf eine leidliche Präsidentenstelle in der Provinz. Es graute mir vor den sandigen Geleisen dieser ausgetretenen Bürokratie. Die Annexionen des Jahres 1868 schienen neue, fruchtbarere Bahnen zu eröffnen. Von Hannover, Hessen, Nassau galt als gewiß, daß man dort mit dem überkommenen Beamtentum auszukommen versuchen und nur die obersten Chargen durch Altpreußen besetzen wolle. In Schleswig-Holstein mit seiner gänzlich im Mittelalter zurückgebliebenen Gerichtsverfassung war allenfalls für die richterlichen Ämter brauchbarer Stoff vorhanden: Die Staatsanwaltschaft mußte unbedingt als altpreußischem Holz neu geschaffen werden. Mein alter Gönner aus dem Polenprozeß Kammergerichtsrat Krüger war inzwischen Ministerialrat geworden und speziell berufen, die Gerichtsorganisation in den Elbherzogtümern zum 1. September 1867 durchzuführen. Es sollten fünf Kreisgerichte in Altona, Kiel, Itzehoe, Schleswig und Flensburg geschaffen und an jedem ein Staatsanwalt mit Gehilfen etabliert werden. Nachdem ich mich um eine dieser fünf Staatsanwaltschaften beworben, überließ mir Krüger die Wahl. Die Lektüre des Fontaneschen illustrierten Werkchens über den letzten Deutsch-Dänischen Krieg (1864) hatte uns die Stadt Schleswig als besonders idyllisch gelegen in die Phantasie eingeschmeichelt: also adoptierte ich für Schleswig. Glücklicherweise wurde ich noch zu rechter Zeit von des Landes Kundigen vor dem lang an der Schley hingestreckten Dorfcharakter Schleswigs gewarnt, und sprang unter Krügers Beifall auf Altona zurück. Die Nähe Hamburgs und der höchste Etatsatz von 1300 Taler Jahresgehalt gaben den Ausschlag. Im Juli oder August 1867 erfolgte meine Ernennung zum Staatsanwalt am Kreisgericht in Altona mit Dienstantritt 1. September 1867 und der Weisung, etwa 14 Tage vorher zur Vorbereitung der neuen Amtstätigkeit mich an Ort und Stelle zu begeben. Von mir befreundeten Kollegen ging Spinola (Geheimer Regierungsrat und verwaltender Direktor der Charité) zu gleicher Zeit als Staatsanwalt nach Kiel, Macco (später Landgerichtspräsident im Nassauischen) nach Flensburg. Oberstaatsanwalt in Kiel wurde der bisherige Stettiner Staatsanwalt Giehlow, Kreisgerichtsdirektor in Altona der bisherige Schneidemühler Kreisgerichtsdirektor Kerbach...