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Täter, Opfer, Strafverfahren

Nachstehender Brief, den die Oberärztin der psychosomatischen Abteilung des UKE, Frau Dr. Haag, unter dem 18.07. d.J. an Herrn Makowka (in seiner Eigenschaft als LG-Präs.) geschrieben hat, verdient allgemeine Aufmerksamkeit:

"Sehr geehrter Herr Präsident,

ein Erlebnis in meiner heutigen Sprechstunde veranlaßt mich zu diesem Schreiben. Da es sich um keinen Einzelfall handelt, möchte ich einen Vorschlag zur Diskussion stellen, der mich schon länger beschäftigt.

Kurz der Fall: Es handelt sich um einen 72jährigen Patienten, der vor 20 Jahren schuldlos als Radfahrer von einem Lkw überfahren wurde, was eine erhebliche Dauerbehinderung und Berentung zur Folge hatte. Der Patient sagt - wahrscheinlich zu Recht -, daß dieser Unfall sein Leben zerstört habe. Im Gespräch wurde dann deutlich, daß diese hochgradig tragische Lebenseinschränkung inzwischen eine Tatsache ist, mit der er sich soweit wie möglich arrangiert hat. Nicht überwunden jedoch hat der Patient die Tatsache, daß der Lkw-Fahrer sich nie entschuldigt oder sich gar in irgendeiner Weise um ihn gekümmert hat.

Ich habe mich darüber inzwischen belehren lassen, daß er dazu juristisch nicht verpflichtet ist. Im Laufe auch meiner gutachterlichen Tätigkeit habe ich aber immer wieder die Erfahrung gemacht, daß die Kränkung, die durch das Desinteresse der an Unfällen schuldig Beteiligten schwer bzw. gar nicht überwunden wird. Gelegentlich führt es zu pathologischen Entwicklungen mit psychosomatischen Patientenkarrieren, die über die körperliche Schädigung per se hinausgehen und therapeutisch kaum zu beeinflussen sind.

Mein Anliegen wäre nun, ob man nicht - obwohl nicht gesetzlich verankert - Richter veranlassen könnten, Unfallverursachern die Auflage zu machen, sich bei ihren Opfern zu entschuldigen. Abgesehen davon, daß es sich dabei um eine selbstverständliche Geste (nicht einmal einen "humanen Akt") handelt, bin ich überzeugt, daß dieser gleichsam auch eine vorbeugende Maßnahme für Krankheitsverläufe sein könnte, die aus unserer psychosomatischen Perspektive nicht zu unterschätzen ist.

Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie meinen Vorschlag einmal mit Ihren Richterkollegen diskutieren würden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Antje Haag"