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Die Lebenserinnerungen
des Otto Samuel Mittelstaedt
- Fortsetzung zu MHR 3/94 -

als Manuskript gedruckt Leipzig 1938 nach dem Exemplar im Staatsarchiv Hamburg A 762/62-5 - hier Teil IV (Hamburg)

Hamburg

Ich war 35 Jahre alt, als ich mein Hamburger Amt antrat, stand im Vollbesitz meiner Kräfte und sah, ohne rückwärts zu schauen, selbstvertrauend der Zukunft entgegen. Die fast zwölf Jahre, die ich als Oberstaatsanwalt, Rat am Obergericht und hanseatischer Oberlandesgerichtsrat im Dienst der Freien Städte zugebracht, füllen denn auch die fruchtbarste, angeregteste, für meine gesamte Entwicklung entscheidenste Periode meines Lebens aus. Von den wenigen amtlichen Beziehungen abgesehen, die sich während der letzten Monate flüchtig zwischen mir und der offiziellen Hamburger Welt angeknüpft hatten, kannte ich eigentlich in der ganzen Stadt keinen Menschen. Das private, wie das amtliche Dasein sollte vollständig neu aufgebaut werden. Keinerlei Rückhalt von Konnexionen, Einflüssen, Amtstraditionen stand mir zur Seite. Meine Anstellung lautete nach damaligem Hamburger Herkommen auf sechsmonatliche Kündigung; von Pensions- und Reliktenansprüchen für Witwe und Kinder war nicht die Rede. Scheiterte ich im Dienste der Freien Stadt, mißfiel dem Senat mein Wirken oder mir der neue Pflichtenkreis, so konnte ich bongré malgré jederzeit des Amtes ledig sein; ich durfte dann froh sein, wenn mich Preußen irgendwie und irgendwohin in seine Justiz wieder aufnahm. Ich war also in jeder Hinsicht auf mich selbst gestellt, mußte versuchen, mit gutem Willen, ernstem Streben, eifrigem, gewissenhaftem Rechtsgefühl der Menschen und der Dinge Herr zu werden. Daß mir dieses in nicht allzulanger Zeit gelang, dafür kann ich der Vorsehung nicht genug dankbar sein. Und nicht minder darf ich es als segensreiche Fügung meines Geschickes preisen, daß der äußere Erfolg begleitet war durch den inneren Gewinn, der Gewöhnung, das eigene Gewissen, die eigene Überzeugung, die eigene Persönlichkeit unabhängig von Menschengunst und dem Beifall oder Mißfall der wandelbaren Menge stetig als die beste und sicherste Führung dunkeler Lebenspfade hochzuhalten. Unendlich viel von beengenden Vorurteilen des Handwerksberufs, der Politik, des gesellschaftlichen Getriebes sind damals von mir abgefallen. Als mich nach Jahren altpreußische Kollegen wieder trafen, wunderten sie sich wohl, was für ein frei denkender Kopf aus dem vormaligen korrekten preußischen Staatsanwalt geworden war. Das reichlich Auskömmliche des Gehalts, die Befreiung mannigfacher materieller Kümmernisse, die fortgesetzt auf den altpreußischen Justizbedienten drückten, und die frische behäbige Luft, die alle Kreise an der Niederelbe durchzog, trugen unzweifelhaft das ihrige dazu bei, mich selbstbewußter aufzurichten. Trotz mancherlei unerquicklicher Erfahrungen, die im unvermeidlichen Gang menschlicher Verhältnisse auch mir nicht erspart geblieben sind, preise ich auch heute noch meine Hamburger Zeit als die glücklichste, die mir im Laufe meines langen Lebens beschieden gewesen ist.

Die alte Strafgerichtsordnung Hamburgs, die ich zu beerben berufen war, trug noch stark mittelalterliches Gepräge. Materiell herrschte die Carolina, gemildert durch eine mehr oder weniger willkürliche Praxis. Formell befand sich das bedeutungsvollste Maß von Jurisdiktionsgewalt in den Händen des Polizeiherrn. Er führte mit Hilfe einiger Kriminalaktuare die Untersuchungen und übte mit Hilfe seiner Polizeibeamten Strafgerichtsbarkeit bis zu zwei Monaten Freiheitsentziehung. Die letztere beschränkte sich in der Regel darauf, daß er an den Rand des Polizeiberichts, zumeist wohl nach Anhörung des Inkulpaten, und falls dieser leugnete, einiger Auskunftspersonen eigenhändig die von ihm zudiktierte Strafe in kürzester Form - etwa "4 - 5 Tage b. W. u. Br. C. P." - vermerkte. Der Polizeibericht und dieser Vermerk, daraus bestanden die Akten. Daneben gab es den fiskalischen Prozeß in den schwerfälligsten obsoleten Formen mit artikuliertem Verhör usw. vor dem Niedergericht und eine sogenannte außerordentliche Jurisdiktion des Obergerichts, die längste Zeit einer Abteilung des Senats, seit etwa einem Jahrzehnt vom Senat getrennt, in selbständiger Verfassung. Die Sache ging, wie sie eben ging. Hamburg erfreute sich damals im Senate, wie in den Gerichten einer ungewöhnlichen Zahl überaus gescheiter Männer, hervorragender Juristen, ausgezeichneter leistungsfähigster administrativer Talente. Zumal der damalige Senator, Chef der Polizei Dr. Carl Petersen, besaß im eminenten Sinne das Zeug zum Staatsmann größeren Stils. Wer den kleinen feinschäftigen Herrn mit seiner bronzenen Gesichtsfarbe, weißem starken Schnurrbart, vornehmen weltmännischen Lebensformen nicht kannte, würde ihn für einen französichen Colonel a. D. gehalten haben. Wer ihn näher kennen lernte, fand in ihm einen sehr klugen, sehr erfahrenen Lebemann, der sein heißes Blut vortrefflich zu zügeln verstand, von weitem Gesichtskreis, leichtester Fassungskraft, die zahllosen mühsamen Aufgaben seines Amtes spielend erledigend. Die exekutive, die Sicherheits- und Sittlichkeitspolizei befand sich unter seiner Leitung in vorzüglichem Zustande. Daß die eigentliche Kriminalpolizei in ihrer bedenklichen Vermischung mit ausgedehnter richterlicher Gewalt nur geringe Garantien einer ohne Ansehen der Person waltenden Gerechtigkeit darbot, lag in der Natur der Sache. Der Einfluß der sogenannten "Beamten", subalterner, aber gut besoldeter, im Polizeidienst ergrauter Leute, war ein ganz kolossaler. Daß sie nicht unbestechlich seien, wurde von den meisten behauptet. Jedenfalls war der Polizeichef darauf angewiesen, mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Ohren zu hören. Was sie für gut fanden, nicht zur Anzeige zu bringen, blieb unverfolgt. Ohne ihre Vermittlung Zutritt zum Polizeiherrn zu erlangen, war schwer. Gelegentlich mögen sie wohl ihrem Chef vertraulich mitgeteilt haben, daß und weshalb es ratsamer sei, diese oder jene kabreuse, natürlich in dem ihnen zusagenden Licht dargestellte Sache offiziell unverfolgt zu lassen. Sünder und Missetäter aus den besseren besitzenden Klassen Hamburgs zum Skandal und zur Freude der Kaprüle öffentlich an den Pranger zu stellen, machte Petersen keine Freude. Man zog es vor, sie über See verschwinden zu lassen und die Akten auf Nimmerwiedersehen zu sekretieren. Über kurz oder lang wurde meist die Sache dennoch ruchbar, der Klatsch vergrößerte die Affäre, und es gab Mißstimmung in der Bürgerschaft, gegen die alle Popularität Petersens nicht aufzukommen vermochte. Derartige Vorgänge hatten am lebhaftesten darauf hingedrängt, noch in letzter Stunde vor dem Eingreifen der norddeutschen Bundesgesetzgebung die Reorganisation der Hamburger Strafgerichtsverfassung zu verwirklichen. Wie stark im übrigen die drohende Erschütterung des alten Polizeiregiments in den beteiligten Kreisen empfunden wurde, bewies mir am schlagendsten der wenige Tage vor meinem Amtsantritt verübte Selbstmord des bis dahin allmächtigen ersten Beamten der Sittenpolizei Kr. Es wurde mir von ihm als letzte Äußerung berichtet, "der Dr. Mittelstädt solle ja zwar ein ganz ordentlicher Mensch sein, aber mit dem zum 1. September über seine Vaterstadt hereinbrechenden "Bojazzenkräm" wolle er, Kr., nichts mehr zu tun haben." Von Petersen selbst kann ich nicht sagen, daß er die geringste Empfindlichkeit über den Verlust bisheriger Omnipotenz merken ließ. Ich habe Jahre lang täglich mit ihm in persönlichem, dienstlichem Verkehr gestanden und ihn immer gleich wohlwollend, unbefangen, entgegenkommend gefunden. Ich weiß nicht, wie es mir ohne seinen stets bereiten klugen Rat möglich gewesen wäre, die Verhältnisse verständig in die neuen Bahnen überzuleiten. Das Verhältnis zwischen ihm und mir sollte erst sehr viel später Trübungen erfahren.

Vorstand der Justizverwaltung war Senator Dr. Hermann Weber, gleichfalls, wie Petersen und bis auf eine Ausnahme alle rechtsgelehrten Senatoren, unmittelbar aus der Advokatur hervorgegangen. In äußerer Erscheinung wie Temperament der Typus des Niedersachsen, breitschulterig, blond, lang und gemessen in allen Bewegungen, behäbig in den Lebensgewohnheiten, voller Humor, sehr wohlhabend und sich des reichen Besitzes wohl bewußt. Auch er würde vermöge seiner geistigen Begabung im großen Staate zweifellos rasch zu Macht und Ansehen gelangt sein, falls ihn, was mir nicht ganz so zweifellos ist, der Ehrgeiz in diese Richtung getrieben hätte. Im engen Hamburger Staatswesen wurde es ihm allzu mühelos, den ihm zusagenden Anteil am Regiment zu gewinnen. Ein außerordentlich klarer Kopf und vorzüglicher Jurist verstand er es, sich leicht in jedes Gebiet des Rechts und der Verwaltung hineinzudenken und hineinzuarbeiten. Sein persönliches Verhältnis zu mir war, wenigstens die ersten 5 - 6 Jahre meines Hamburger Staatsdienstes, das allerbeste. Er fand entschieden Gefallen an meiner Art und ich durfte als sein besonderer Günstling gelten. Weit über den Kreis der mir zunächst unterstellten amtlichen Angelegenheiten hinaus behandelte er mich als seinen Vertrauensmann, mit dem er rückhaltslos alles besprach, dessen Rat er fortgesetzt in Anspruch nahm. Sehr bald hatte sich zwischen seiner Frau, seiner Mutter und meiner Frau ein befreundetes Verhältnis herausgebildet, wir wurden sowohl in seinem Stadthause, wie in seinem schönen Landhause am Elbufer häufige und gern gesehene Gäste. Daß ich wiederholt als Delegierter Hamburgs für längere und kürzere Zeit nach Berlin in dort tagende Reichskommissionen entsandt wurde, verdankte ich in erster Reihe seinem und Petersens Einfluß. Wie es gekommen, daß die Beziehungen zwischen Hermann Weber und mir erst kühlere, dann innerlich gespannte wurden, wird später zu berichten sein. Daß es so kommen mußte, war mir von all meinen Hamburger Erfahrungen vielleicht die schmerzlichste; sie verleidete mir das Hamburger Amt und trieb mich schließlich fort. - H. Weber ist wenige Jahre, nachdem ich Hamburg verlassen, in der Vollkraft seines Lebens gestorben.

Das Hamburger Obergericht, aus sechs Räten, neun kaufmännischen Mitgliedern zusammengesetzt, stand unter dem Vorsitz des früheren lebenslänglichen Bürgermeisters Dr. Kellinghusen, der bei Abzweigung des Obergerichts aus dem Senat in dieses übergetreten war. Es arbeitete in Sektionen, je aus drei rechtsgelehrten, zwei ungelehrten Mitgliedern bestehend. Unter den Räten überragten die übrigen um mehrere Häupter Länge Dr. Baumeister und Dr. Knauth, beides in der Tat Juristen von ungewöhnlicher Kapazität, der erstere überwiegend doktrinär veranlagt, Verfasser eines als kanonisch angesehenen Hamburger Privatrechts, von vielseitigstem theoretischem Wissen, der letztere durch Scharfsinn und dialektische Schlagfertigkeit ausgezeichnet. Jener, langjähriger Präsident der Bürgerschaft, besaß wohl eine zu stark entwickelte Versalität der Gesichtspunkte und zu viel Skeptizismus, um einen politisch festen Charakter abzugeben, der letztere, durch und durch leidenschaftlich temperiert, konservativ in allen Fasern, hatte die Beseitigung der Hamburger Torsperre als Ende der Selbständigkeit seiner geliebten Vaterstadt mit solcher Heftigkeit beklagt, daß, wie ihm nachgesagt wurde, er, ein zweiter Kato, sich in sein Schwert zu stürzen gedroht hatte. Doch gelang es ihm, sowohl diese wie die folgenden ernthafteren Umwälzungen der Jahre 1866 - 1871 zu überleben. Beide sind mir mit der Zeit gute Freunde und Kollegen geworden. Baumeister, der der Kriminalabteilung des Obergerichts und dem Schwurgericht präsidierte, bezeigte vom ersten Tage meiner Hamburger Amtswirksamkeit an das lebhafteste Interesse, sich mit mir gutzustellen. Als er nach Kellinghusens Tode im Jahre 1876 sein Nachfolger im Obergerichtspräsidium und ich Baumeisters Nachfolger in der vakant gewordenen Ratsstelle sowie im Schwurgerichtsvorsitz geworden, wurde unser Verhältnis noch intimer. Knauth, ausschließlich Zivilist, gewöhnte sich nur langsamer an den Altpreußen. Es war mir bestimmt, beide im Obergericht zu überleben.

So ungefähr sah es um die wesentlichsten Faktoren aus, auf deren tätige Mitwirkung ich in meinem neuen Amt angewiesen war. Von den Kriminalisten des Niedergerichts, Untersuchungsrichter, Polizeirichter, Mitgliedern der Strafkammer wüßte ich wenig zu sagen. Es war Mittelschlag, meist mit gesundem Menschenverstande ausgestattet, nicht ohne einige praktische Erfahrung, im großen und ganzen bedeutungslos. Zu rühmen habe ich von ihnen allen, daß sie mir in der liebenswürdigsten Weise entgegenkamen, stets bereit, meinen Rat zu beachten, meine Vorschläge anzunehmen. Und darin bestand überhaupt der große Unterschied zwischen meiner Altonaer und meiner Hamburger Amtsstellung, daß ich hier nicht als ein fremder Eindringling, sondern von vornherein allerseits vertrauensvoll als ein erwünschtes Organ reformierter Strafgerichtsordnung begrüßt wurde. Das galt im ausgesprochensten Maße von dem Verhalten der Hamburger Bevölkerung zu mir. Man wußte, daß ich keinerlei Familienanhang in der Stadt besaß, keinerlei Familieneinflüssen mein Amt verdankte. Man hatte bald Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß ich ohne Ansehen der Person meine Amtsgewalt handhabte, der arme Mann von mir nicht mehr zu fürchten hatte als der reiche. Der Zutritt zu mir stand jedermann offen; die Pforten meines Büros wurden nicht durch Unterbeamte ängstlich bewacht, auch gab es keine Gelegenheit zum Sportulieren oder zum Bakschisch. Mit dem Titel des Staatsanwalts hatte sich die populäre Vorstellung verknüpft, das sei so eine Art vom Staat für alle Welt bestellter Volksanwalt, bei dem man sich kostenlos Rats erholen könne. In einem Gemeinwesen von der Größe und der bisherigen Ordnung Hamburgs fehlte es nicht an Leuten, die unter dem alten Regiment Unbill erlitten zu haben glaubten und nunmehr endlich zu ihrem Rechte zu gelangen hofften. Dies alles strömte mir zu, um mir alte oder neue Querelen vorzutragen. Zumeist waren es Dinge, die vollkommen außerhalb meiner amtlichen Zuständigkeit lagen. Indessen konnte ich doch manchem durch vernünftigen Rat auf den richtigen Weg verhelfen, ihn hier oder da durch Fürsprache an zuständiger Stelle unterstützen, ihm einen mir befreundeten Advokaten zuweisen und dergleichen mehr. Die meisten waren schon zufrieden, Gehör gefunden, ihre Klagen in vollster Ausführlichkeit vorgetragen zu haben, und gingen erleichterten Herzens fort. Das kostete viel Zeit und viel Geduld. Aber es verschaffte mir doch auch mancherlei nützliche Einblicke in das innere Getriebe des Hamburger Regiments. Da mich die sehr einflußreiche Hamburger Advokatur nicht minder dienstbereit und persönlich zugänglich fand, die gesetzliche Zulässigkeit und Opportunität strafgerichtlicher Maßnahmen mit ihnen zu erörtern, wurde ich bald eine in weiten Kreisen beliebte, volkstümliche Persönlichkeit. Daß ich gesellschaftlich zurückgezogen lebte, man mich weder an der Börse, noch im Klub, noch sonst in öffentlichen Lokalen viel zu sehen bekam, steigerte, glaube ich, eher meine Popularität, als daß dieser Umstand ihr Abbruch tat. Minuit praesentia famam. Wäre in jenen ersten Jahren meiner Hamburger Staatsanwaltschaft eine Stelle im Senat vakant geworden, würden meine Chancen, zum Senator gekürt zu werden, nicht unerhebliche gewesen sein. Ob mir solche Wahl Glück gebracht hätte, ist freilich zweifelhafter. Als ein fernerer Beweis des mir allerseits entgegengebrachten Vertrauens mag an dieser Stelle Erwähnung finden, daß noch im Winter 1867/68, also wenige Monate nach dem Beginn meiner hanseatischen Wirksamkeit, vom Oberappellationsgericht in Lübeck angeregt wurde, mich dorthin als Rat des höchsten Gerichtshofs zu senden. Der Senat lehnte es ab, auf den Wunsch einzugehen und ich selbst empfand ebensowenig Neigung, mich in so jungen Jahren auf der Richterbank dauernd seßhaft zu machen. Die angestrengte, persönlich verantwortliche, aber mannigfach anregende staatsanwaltliche Tätigkeit sagte mir damals entschieden mehr zu, als das stille richterliche Walten. Dienstliche Unabhängigkeit, die in Preußen den unschätzbaren Vorzug des Richteramts bildete, genoß ich tatsächlich in Hamburg vollauf. Die mir vorgesetzte Dienstbehörde war der Senat und was eine aus 18 Köpfen bestehende Körperschaft an bürokratischer Aufsicht zu leisten imstande ist, kann man leicht ermessen. Das vorzügliche persönliche Verhältnis zu dem Chef der senatorlichen Justizverwaltung schloß vollends jedes aktuelle Abhängigkeitsgefühl aus.

Die sachliche Arbeitslast, die zumal während des ersten halben Jahres auf meinen Schultern lag, da ich ausschließlich auf die Hilfe Ludwig Hallers angewiesen war und die neue Maschinerie noch überall knarrte, war nicht gering. Uns beiden lag es nicht allein ob, Strafkammer und Schwurgericht mit Anklagestoff zu versorgen, wir hatten auch den erheblichsten Teil der amtsanwaltlichen Geschäfte am Polizeigericht zu erledigen, in allen Appellationssachen am Obergericht, in allen Hamburger Kassationssachen am Lübecker Oberappellationsgericht die Anklage zu vertreten. L. Haller war eine ausgezeichnete Kraft, nach Charakter nicht gerade leicht zu behandeln, aber von rascher Auffassung und großer Leistungsfähigkeit. Solange ihn die staatsanwaltliche Tätigkeit noch interessierte, griff er energisch zu und bewältigte spielend die weitläufigsten Akten. Nur hierdurch wurde es mir möglich, im laufenden zu bleiben. Leider Gottes erlahmte nur allzubald in ihm das Interesse für sein Amt und für den Hamburger Staatsdienst überhaupt. Ein unruhiger, heftiger Geist, dem Leben und seinen Rätseln hart und schroff und mißmutig gegenüberstehend, verstand er es gar nicht, sich die Menschen, wie sie nun einmal sind, nachsichtig gefallen zu lassen. Dienstliche Reibungen - nicht mit mir, wohl aber mit den Gerichten, der Advokatur, dem Senat - und einige herbe Erfahrungen in seinem Hause veranlaßten ihn, irre ich nicht, schon 1871 den Staub der Vaterstadt von den Füßen zu schütteln und als Hilfsarbeiter in das Berliner Reichskanzleramt überzutreten. Sein staatsanwaltlicher Nachfolger wurde Dr. Braband, der schon vorher neben Haller aushilfsweise von mir beschäftigt worden, während Dr. Otto Mönckeberg nunmehr als zweiter Gehilfe bei mir in Funktion trat. Alle drei sind in jungen Jahren vor mir gestorben. Ludwig Haller schied freiwillig aus dem Leben, das ihn langweilte und dessen er überdrüssig geworden. Dr. Braband und Dr. Otto Mönckeberg wurden, nachdem ich Hamburg verlassen, in den Senat gewählt, indessen schon nach Kurzer Zeit durch Krankheit fortgerafft. Sie haben beide, solange die Sonne sie beschien, treu an mir gehalten, ohne Rücksicht auf den Wandel der Dinge, den Wechsel des Amtes und des Wohnsitzes, auf die späteren Verstimmungen des offiziellen Hamburgs gegen mich und mein Reichsamt, mir Freundschaft bewahrt, mich mit ihren Frauen wiederholt in Leipzig besucht und mir in jeder Weise ihre Anhänglichkeit bestätigt. Beide waren von mir aus dem großen Kreise der jüngeren Advokatur in die Staatsanwaltschaft hineingezogen, von mir für das Amt ausgebildet und zu bekannten und bewährten Persönlichkeiten gemacht worden: sie glaubten solchergestalt wohl auch ihr senatorliches Amt meiner Schule mehr oder weniger verdanken zu sollen. Die Erinnerung an diese meine jungen Mitarbeiter und an das wandellos gute Verhältnis, das zwischen uns bestanden, darf ich mir als den besten Gewinn meines Hamburger Amtsdaseins zurechnen. Wenn ich in späteren Jahren manchmal an mir irre wurde, ob ich gegen Hamburg immer gerecht gesonnen gewesen, dieses oder jenes Mißverständnis, diese oder jene Spannung nicht selbst verschuldet hätte, ist mir das Gedenken an Braband und Otto Mönckeberg stets ein Trost gewesen.

Mitgeteilt und bearbeitet von

RiAG a.D. Otto