(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/95) < home RiV >
Neues vom Ozeanteufel
Von Matthias Steinmann

"Als 'Ozeanteufel' im Reich der Mitte" hatten wir einen Bericht unseres Kollegen Matthias Steinmann (Amtsgericht Altona) über seinen Forschungsurlaub in der VR China überschrieben (vgl. MHR 1/94 S. 6-9); hier Fortsetzung und Ende:

Nanjing, den 5.1.1995

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mein Aufenthalt hier in der VR China neigt sich allmählich dem Ende zu. Ich muß gestehen, daß ich am Ende doch etwas müde geworden bin - das Leben in China ist zwar interessant, aber der Alltag sehr anstrengend und ermüdend. Gestern führte ich eine längere Diskussion mit meinem chinesischen Kollegen über die Frage, wer im Institut für das Abholen von Bücherpaketen zuständig ist. Hintergrund ist: Pakete werden nicht ins Haus gebracht, sondern müssen beim Postamt abgeholt werden. Auf meinen Vorschlag, unser Institut verfüge doch über ein Auto mit Fahrer, wurde mir entgegnet, ein Fahrer fahre nur, sei aber nicht befugt, für das Institut Bücher entgegenzunehmen. Auf meinen zweiten Vorschlag, wir hätten doch eine Sekretärin, wurde mir entgegnet, diese weigere sich. Bücher sollten durch den Hausmeister abgeholt werden. Das Institut verfügt jedoch nicht über einen Hausmeister, weil es eine zu kleine Einheit innerhalb der Universität ist. Schließlich holte mein Kollege das Buchpaket ab. In diesem Moment ist mir der Kragen geplatzt. Am Nachmittag berief ich eine Institutsbesprechung ein, auf der u.a. beschlossen wurde, die Sekretärin im nächsten Semester zu entlassen und einen deutschen Studenten einzustellen, der in der Lage ist, Bücher abzuholen, Briefe zu schreiben und die Bibliothek zu verwalten. Also all das, was die jetzige sog. Sekretärin nicht macht. Ich hoffe, der Beschluß läßt sich durchsetzen, so daß meinem Nachfolger wenigstens dieser alltägliche Ärger erspart bleibt.

Aber schriftliche Vereinbarungen oder auch Gesetze sind in China häufig nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen. Man hat ein anderes Verhältnis zum Vertrag; man bricht oder kündigt ihn - je nach Opportunitätsgründen. Es gilt eben, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen (shishi qiushi). Die Praxis ist das Entscheidende, nicht der Vertrag - und zeigt die Praxis, daß die Umstände den Vertragsbedingungen nicht mehr entsprechen, fühlt man sich auch nicht mehr an den Vertrag gebunden - das einzige Kriterium für die Überprüfung der Wahrheit (sprich Vertrag) ist eben die Praxis. Nicht der Vertrag ist die Grundlage einer Beziehung, sondern der permanente "Wegfall der Geschäftsgrundlage", auf den man sich als "Vertragspartner" immer wieder neu einstellen muß.

Ein schönes Beispiel ist gerade jetzt der Fall Mc Donald's in Beijing. Mc Donald's verfügt über eine große Filiale mitten im Zentrum an der bekannten Einkaufsallee Wangfuqing Dajie (10 Minuten vom Tiananmen). Grundlage ist ein 20-jähriger Pachtvertrag mit der Stadtverwaltung Beijing. Nach vier Jahren flattert Mc Donald's plötzlich die Kündigung des Pachtvertrages ins Haus. Beijing möchte im Rahmen seiner vollständigen Renovierung der Einkaufsstraße Wangfuqing Dajie an der Stelle der Mc Donald's Filiale einen Gebäudekomplex errichten. Andere berühmte Läden in unmittelbarer Nähe von Mc Donald's - wie insbesondere der Xinhua Buchladen - sind bereits geräumt und werden abgerissen. Im Moment steht an der Ecke Wangfuqing Dajie / Changanjie nur noch Mc Donald's inmitten riesiger Baustellen. Mc Donald's wird wohl bald weichen müssen; schließlich will Mc Donald's weitere Filialen in Beijing errichten, und man braucht dann wiederum die Genehmigung der Stadtverwaltung. Da ist es nicht gut, wenn man sich streitet, gar vor Gericht geht und die Wirksamkeit der Kündigung überprüfen läßt.

In China herrscht im Grunde nicht das geschriebene Recht, sondern persönliche Beziehungen. Ohne Beziehungen zu den richtigen Leuten ist man verloren. Aber der Aufbau von persönlichen Beziehungen (guanxi) - hilfst Du mir, helfe ich Dir - kostet Zeit, Kraft, Geld, Nerven und persönliches Engagement. Gleichwohl wird man gerade als Ausländer - laowai - nie wie ein Chinese über derartige Beziehungen verfügen können. Als laowai bleibt man in China drinnen vor der Tür. Der umgangssprachliche Begriff für Ausländer - laowai -, der einem fast an jeder Ecke entgegenschallt, heißt wörtlich übersetzt: alt und außen oder auch alter Ausländer. Der Begriff lao drückt einen gewissen Respekt aus, der Begriff wai bedeutet: außen vor sein, zwar drinnen in China, aber doch außen vor und nicht dazugehörig.

Das Leben als Laowai zeichnet sich darüber hinaus durch eine permanente staatlich verordente Diskriminierung aus. Laowais müssen für Flüge, Züge oder Sehenswürdigkeiten bedeutend mehr bezahlen als Chinesen. Ein Flug von Nanjing nach Beijing kostet einen Chinesen 500 RMBI (ca. 90,-- DM), einen Laowai 760 RMBI (ca. 140,-- DM). Die Flughafengebühr in Beijing kostet für einen Chinesen 15 RMBI (ca. 2,80 DM), für einen Laowai 25 RMBI ca. 4,-- DM). Dahinter steckt offensichtlich die Überlegung, Ausländer hätten mehr Geld und sollten daher auch mehr bezahlen. Dies ist jedenfalls immer die Begründung des chinesischen Personals, wenn man sich - machtlos - über die unterschiedlichen Preise beschwert. Gleichwohl führt man überall den Begriff Marktwirtschaft (shichang jingji) im Munde, wenn auch um das unvermeidliche "sozialistisch" (shehuizhuyi) ergänzt. Leider hat sich noch nicht herumgesprochen, daß sich in einer Marktwirtschaft die Preise auch für Dienstleistungen nach Angebot und Nachfrage regulieren, nicht nach dem vermuteten Einkommen des Käufers. Und solange man dies in der politischen Führungsspitze der VR China nicht verstehen oder umsetzen will, hat die VR China auch in der neuen Welthandelsorganisation (WTO) nichts verloren. Die Beitrittsverhandlungen sind ja jetzt gerade gescheitert; ich kann das nur begrüßen. Es geht m.E. darum, der VR China den von ihr begehrten Status des Besonderen zu nehmen. Die VR China soll genauso behandelt werden wie alle anderen Länder auch. Sie muß sich, wenn sie als gleichberechtigter Partner am Weltgeschehen und am Welthandel teilnehmen will, diesen Prinzipien unterwerfen - und hierzu zählt eben auch, daß Verträge dazu da sind, eingehalten zu werden. Obwohl die VR China zahlreichen internationalen Verträgen zum Schutz geistigen Eigentums beigetreten ist, über ein Warenzeichengesetz (seit 1982), ein Patentgesetz (seit 1985), ein Urheberrechtsgesetz (seit 1991) und ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (seit 1993) verfügt, kann man hier in Nanjing massenhaft Raubkopien von CDs kaufen zum Preis von 10 RMBI (ca. 1,90 DM). Sicherlich braucht die Umsetzung von Gesetzen, der Aufbau eines funktionierenden Rechtsschutzes Zeit - aber das ist ein chinesisches Problem, das nicht über Sonderregeln in internationalen Verträgen auf die Allgemeinheit abgewälzt werden sollte.

Ich will mit diesen Schilderungen deutlich machen, wie schwierig sich zum Teil das Leben - beruflich wie im Alltag - hier in China gestaltet. Alltägliche Dinge, die bei uns keine Probleme bereiten, nicht einmal einen Gedanken wert sind, benötigen hier zeit- und kraftraubende Aktionen. So gibt es in der VR China keine Hin- und Rückfahrkarten. Ein Zugticket gilt immer nur für einen bestimmten Zug, nicht für die Strecke. Jeder Zug hat eine Nummer, für die das Ticket ausgestellt wird. Ein Ticket muß man in der Regel zwei bis drei Tage vorher bestellen (beim Reisebüro, was wiederum 40 RMBI Gebühren kostet), oder man begibt sich zu den Verkaufsbüros in der Stadt und reiht sich in die Schlange ein, was wiederum sehr zeitintensiv ist. Am Bahnhof gibt es keine Tickets. Am Ankunftsort muß man sich immer gleich um ein Rückfahrtticket bemühen, damit man, wie geplant, wieder zurückkommen kann. Das kostet viel Zeit, weil man erst einmal herausfinden muß, wo sich die Verkaufsbüros befinden. Eine Reise ist also immer ein Abenteuer, weil man nie weiß, ob man auch planmäßig zurückkommt. Grund dafür ist die völlige Überlastung der Schienenwege.

Ein weiterer zentraler und bleibender Eindruck von China sind die unglaublich vielen Menschen, die hier leben. In jeder noch so kleinen Straße tummeln sich unzählig viele Menschen, zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto, das sich hupend den Weg durch die Menschenmassen bahnt. Solche Momente führen einem die dringende Notwendigkeit der staatlichen Familienplanungspolitik - Ein-Kind-Familie - vor Augen, die m.E. unbedingt wie bisher fortgesetzt werden muß. Auch scheint diese Politik nach meinem Eindruck breite Unterstützung zu finden - Zhongguoren tai duo (es gibt zu viele Chinesen) ist ein häufig gehörter Ausruf auf den Straßen.

Bei aller Kritik an Einzelheiten darf doch ein wichtiges Moment nicht übersehen werden: China ist ein riesiges Land mit einer Bevölkerung von ca. 1,2 Milliarden Menschen verschiedenster Nationalitäten. Ein Leben im Norden Chinas - z.B. Heilongjiang - gestaltet sich ganz anders als im Süden - z.B. in Guangdong. Und doch müssen alle Interessen irgendwie unter einen Hut gebracht werden, und alle wollen - was nach wie vor das Wichtigste ist -genug zu essen haben. Es ist m.E. eine historische Leistung der Kommunistischen Partei und seiner Führer, die Einheit Chinas geschaffen und bisher aufrechterhalten zu haben. Die allermeisten Menschen in China - wohl auch in ärmeren westlichen Provinzen - haben heute genug zu essen. Eine Leistung, die angesichts der Hungersnöte, die China in seiner Geschichte bis weit in dieses Jahrhundert hinein heimgesucht haben, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Kampf um die tägliche volle Reisschale ist nach meinem Eindruck nach wie vor tief verwurzelt. Die Putzfrau, die jeden Morgen in mein Büro kommt und heißes Wasser für Tee bringt, sagt nicht: ni hao - guten Tag -, sondern fragt zuerst: chiguo le meiyou - Hast Du schon gegessen?

Schließlich darf man nicht übersehen, daß bis 1976 die Kulturrevolution tobte. Eine Zeit des permanenten politischen Machtkampfes einer Person, nämlich Maos, der ohne Rücksicht auf die Bevölkerung gnadenlos durchgeführt wurde und Millionen Menschen das Leben kostete. Ich habe hier eine Person kennengelernt, die 1966 - gleich nach dem Abitur - als Intellektuelle von Beijing aufs Land in die Innere Mongolei geschickt wurde und erst 1978 wieder nach Beijing zurückkehren und ein Studium aufnehmen durfte. Das ist kein Einzelfall; dieses Schicksal teilten Millionen von Menschen in dieser Zeit. Erst Ende 1979, als sich die sog. Reformkräfte in der Partei auf dem 3. Plenum des ZK voll durchgesetzt hatten, begann der Wiederaufbau - sozusagen bei null. Heute nach 15 Jahren Reformpolitik geht es den meisten Menschen so gut wie noch nie zuvor. Sie haben genug zu essen, sie haben mehr Freiheiten, z.B. in der Berufswahl und dank der Öffnungspolitik (duiwai kaifang) auch die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen oder ohne persönliche Gefährdung mit Laowais in Kontakt zu treten.

Bei all den großen Problemen, denen sich China heute stellen muß - wie der durch das Guanxi-System bedingten Korruption in Partei und Verwaltung, der gigantischen Umweltverschmutzung, bedingt auch durch Unkenntnis in der Bevölkerung (Müll wird auf der Straße verbrannt), den Widerspruch zwischen reichen Küstenprovinzen und ärmeren Westprovinzen, dem Fehlen eines staatlichen, unternehmensunabhängigen Sozialversicherungssystems, der katastrophalen wirtschaftlichen Situation der staatseigenen Unternehmen, der weiter wachsenden Bevölkerung, der Energieknappheit etc. - versinkt dieses Land (noch) nicht in Chaos oder Bürgerkrieg.

Schließlich fehlt es in weiten Teilen der Bevölkerung wie auch in der politischen Führung nach wie vor an Rechtsbewußtsein. Es gibt heute zwar unzählig viele Gesetze und auch Volksgerichte, aber in der Praxis läuft - wie oben angedeutet - vieles am Recht, an den Gesetzen und den Gerichten vorbei. Streitigkeiten werden in erster Linie durch Verhandlung (xieshang) der Parteien untereinander oder durch Hinzuziehung eines neutralen Dritten im Wege der Schlichtung (tiaojie) gelöst. Es besteht zweifellos das Bedürfnis, Streitigkeiten harmonisch und im gegenseitigen Einvernehmen zu lösen, auch um persönliche Beziehungen nicht zu zerstören. Es ist daher eine weitere wichtige Aufgabe der Zukunft, den Menschen zu vermitteln, daß die strikte Einhaltung von Gesetzen und Verträgen durch jedermann Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit schafft und auch letztlich Korruption verhindert. Gesetze allein schaffen noch kein funktionierendes Rechtssystem: die Anwendung in der Praxis ist das Entscheidende. Aber was sind schon 15 Jahre Reformpolitik, 45 Jahre Kommunismus in der mehrtausendjährigen Geschichte und Kultur Chinas. ...

Viele Grüße aus dem fernen Nanjing