(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 1/95) < home RiV >
Zum 8. Mai 1995
Von Günter Bertram

1. Den "50. Jahrestag" mit Schweigen zu übergehen, wäre ein elender Ratschlag. Ihn schweigend zu begehen ein besserer -vielleicht der eigentlich angemessene. Eigentlich: In Wirklichkeit vermag keiner, wenn es soweit ist, dem reißenden Strom von Worten und den tausend fälligen Kundgaben zu entfliehen; schon deshalb nicht, weil Schweigen so sehr außer Mode geraten ist, daß es fast notwendig als eine schroffe Abweisung nicht nur des ewigen Redens, sondern des Geredeten selbst gedeutet werden würde. Das wäre falsch - jedenfalls zu pauschal.

Doch leidet manches Gedenken an einer hypertrophen Geschichtspädagogik, wodurch Erinnerung, Besinnung und Mahnung, allen besseren Absichten entgegen, ritualisiert, verflacht, ja lästig zu werden drohen.

Ist der 8. Mai "Tag der Befreiung" oder die Wiederkehr des Tags der deutschen Katastrophe? Die Antwort gilt oft - nicht erst seit heute - als ein Test für Gesinnung und Charakter: Sie zeige - je nach dem! - Einsicht und geschichtliche Sensibilisierung oder das gerade Gegenteil: nationale Befangenheit oder Schlimmeres. Was ist davon zu halten?

2. Vordergründig betrachtet war der 8. Mai 1945 - der Tag, mit dessen Ablauf die Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft getreten war - damals kaum noch von nennenswertem Gewicht: Hitler hatte sich schon am 30.04. umgebracht, Berlin am 2. Mai vor der Roten Armee kapituliert, die Folterstätten nazistischen Terrors waren gesprengt, die Überlebenden - oft nur noch als menschliche Wracks - befreit worden. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, ein Exodus vieler Millionen, war damals schon längst im Gange - zehntausende waren vergewaltigt, erschlagen, erschossen, überrollt worden; das dauerte an, weit über die Kapitulation hinaus. ...

Der 8. Mai kann mithin, so will es jedenfalls scheinen, kaum etwas anderes sein als ein Symbol für vieles: den Niedergang des 3. Reiches, entsetzliche deutsche Massenverbrechen, das Ende Hitlers und die Befreiung aller von Partei-, SS- und Naziherrschaft, aber ebenso für Flucht, Vertreibung, Verschleppung und alle Verwüstung des Zusammenbruchs, für den Verlust der östlichen Provinzen und die Zerstückelung des Reiches, für Trümmer und Wahnsinn ... und für die Hoffnungen auf ein besseres Staats- und Gemeinwesen.

"Vor 50 Jahren" heißt eine Zeitungsrubrik (FAZ), die just dieses Panorama - über die Wochen fortlaufend - dem Vergessen entreißt:

"24.01. Königsberg: Am 24. Januar setzt sich die Hauptmasse der vom Lande in die Stadt hereingekommenen Flüchtlinge langsam in Bewegung. Ein Wagen nach dem anderen fährt aus der Reihe heraus und steuert die Alte Pillauer Landstraße an, auf welcher eine endlose Kette von Fahrzeugen westwärts rollt. Wie man hört, liegen im Pillauer Hafen bereits mehrere überfüllte Schiffe, die wegen der Minengefahr nicht auslaufen können ..."

(Lehndorf: Ostpreußisches Tagebuch)

"25.01. Auschwitz: Draußen lag immer noch das große Schweigen. Die Zahl der Raben hatte sich vermehrt, und jeder wußte, warum. Nur in großen Abständen ließ sich die Artillerie wieder vernehmen. Alle sagten einander, daß die Russen bald, sofort eintreffen würden; alle proklamierten sie es, alle waren sich dessen gewiß; aber keiner war fähig, es klar zu fassen. Denn in den Lagern kommt einem die Gewohnheit des Hoffens abhanden und auch das Vertrauen auf die eigene Zukunft. ... Wie man der Freude, der Angst, ja sogar des Schmerzes müde wird, so wird man auch der Erwartung müde. Nun, da der 25. Januar erreicht war, da seit acht Tagen die Beziehungen zu jener grausamen Welt ... abgebrochen waren, konnten die meisten von uns vor Erschöpfung nicht einmal mehr warten."

Primo Levi: Ist das ein Mensch?

... und so setzt sich der beklemmende Reigen fort: Tagebücher, Notizen, Berichte, Aufzeichnungen. "Tage des Überlebens" nennt Margret Boveri die ihren. Inzwischen hat die unerbittliche Zeit ihr Werk getan und zu Literatur oder sachlicher Geschichtsquelle werden lassen, was damals oft mit letzter Kraft, in tiefer Verzweiflung, als Vermächtnis oder auch in leise aufglimmender Lebenshoffnung dem Papier anvertraut worden war.

3. Die Alternative: "Befreiung oder Katastrophe?" - wie steht es also mit ihr?

Der Mensch steckt zunächst in seiner Haut. Was ihn unverlierbar prägt, ist das eigene Leben, sein Schicksal, das ihm - ihm allein an Körper und Seele - widerfährt. Deshalb können die Bilder, Erinnerungen und Spuren einer so wüsten Zeit einander schwerlich überall gleichen:

Wer im Winter 1944 oder dem folgenden Frühjahr in Treblinka, Maidanek, Belzec oder Birkenau, in Theresienstadt, Dachau oder Hamburg-Neuengamme geschunden worden ist und fast verhungert und verdorben wäre, der trägt eine andere Bürde mit sich, wird von anderen Bildern gequält und verfolgt als ein Flüchtling, der die Schrecken der Trecks im Osten durchlebt hat, der dem Feuersturm von Dresden entkommen ist, oder der Gefangene, der den Marsch nach Sibirien antreten mußte. ...

Dennoch ist der Mensch, Gott sei Dank, nicht gänzlich an sich gefesselt und in sich gefangen; er kann Leid und Schicksal auch anderer wahrnehmen und es sich - bis zu einem gewissen, oft freilich nur bescheidenen Grade - zu eigen machen. Und wenn Empathie so weit nicht reicht, ist auch die rein intellektuelle Zurkenntnisnahme ein erster, keineswegs gering zu achtender (aber oft unterlassener) Schritt.

Mir fällt ein Gespräch mit Fritz Valentin ein, dem damals längst pensionierten Senatspräsidenten am HansOLG, der im Altersheim in Wedel wohnte. Wie er damals als jüdischer Rückkehrer (tatsächlich war er Christ; aber begriffliche Feinheiten mögen auf sich beruhen) aus der Emigration von seinen alten und neuen Nachbarn und Kollegen hier in Hamburg aufgenommen worden sei, wollte ich wissen. "Ach, ich kann eigentlich nicht klagen ..., aber die Leute hatten doch ihre Sorgen und ihre Geschichte: Hunger, Trümmer, Kälte, Familientrennung und "Heldentod", Bombennächte, Besatzungsmacht ...; konnte ich verstehen. ...Aber zu mir meinte man, sofern die Rede überhaupt dahin kam, als Emigrant hätte ich all das ja gar nicht erlebt; im Ausland sei es mir doch sicherlich besser gegangen als ihnen, ohne ihre ganze Not. ... Das zu hören war schon etwas bitter."

Da fehlte also nicht nur die Fähigkeit innerer Teilnahme (die Valentin in umgekehrter Richtung ersichtlich aufzubringen vermochte), sondern schon die intellektuelle Wahrnehmung (vgl. auch Dr. Fritz Valentin: Bewahrung der Heimat im Schicksal der Emigration, Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins vom 01.02.1984 S. 4 ff.).

Die Welt der Erinnerungen: Sie ist eine gemeinsame durch Vermittlung des Verstandes und seelische Teilhabe am Fremden; sie ist aber zugleich und unvermeidlich ein Haus mit vielen Räumen kraft unvertretbar eigenen Schicksals. Deshalb kann der 8. Mai in der Tat nur Befreiung und Katastrophe, Heimkehr und Vertreibung, Heilung und Verwundung bedeuten - und manches andere dazu.

4. Vielleicht wird dies, soweit es nur um die Beleuchtung der biographisch-psychologischen Befunde geht, kaum Widerspruch finden. Nicht die Fakten selbst dürften Streit heraufbeschwören, sondern die weitere Frage, wie man mit ihnen (wie man zu sagen pflegt) "umgehen" muß.

Eine achtbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" verdient hier deshalb ein gewisses Interesse, weil ihre literarische Geschichte die Substanz unseres Problems aufdeckt: Inhaltlich dreht es sich dabei, wie jeder Kundige vermuten wird, um eine Geographie und Chronik des Grauens - auf über 2000 Dünndruckseiten. Sie erschien 1954 (z.T. auch später), erarbeitet und verantwortet von Theodor Schieder, Rudolf Laun, Hans Rothfels (dem bedeutenden jüdischen Historiker, dessen Feder dem 20. Juli 1944 ein frühes Denkmal gesetzt hatte), schließlich auch von Wissenschaftlern, deren Namen - wie der Martin Broszats - mit der Analyse des "SS-Staates" und der Strukturen nazistischer Massenverbrechen eng verknüpft sind; was übrigens kein Wunder ist, wie man heute leichter begreift als früher, weil die Verwandtschaft von Nazismus und Bolschewismus jetzt offen zutage liegt.

Die erste Auflage, vermutlich eine ziemlich begrenzte, war dann vergriffen. 1969 faßte die Regierung der Großen Koalition den seltsamen Beschluß, eine Dokumentation über "die während der Vertreibung an Deutschen begangenen Verbrechen" herstellen zu lassen, sie der Öffentlichkeit aber nicht zugänglich zu machen. So geschah es dann auch; das Thema blieb bis 1982, dem Ende der sozial-liberalen Regierung, tabu; zwei Jahre später kam dann (als dtv reprint) ein unveränderter Neudruck der Vertreibungs-Dokumentation heraus. Warum das lange Schweigen? Ging es doch eigentlich nur darum, eine Welt schrecklicher Erinnerung vor dem Vergessen zu retten, dem Anspruch der Opfer gerecht zu werden, daß auch ihre Leiden in den Annalen der Geschichte einen Platz finden und daß auch dieses Unrecht ohne Umschweif oder Rückgriff auf kommunistische Euphemismen beim Namen genannt wurde. Nur darum? Man kann die Sache mißbrauchen: Einige oft zitierte Wendungen des Deckert-Urteils zeigen das. Die "Info-Telephone" der Neo-Nazis und ihre Publikationen besorgen das gleiche Geschäft. "Aufrechnung", wie man es nennt: "Auschwitz gegen Dresden" oder was solcher Blasphemien mehr sind. Darüber ist jedes Wort überflüssig und verloren: Der Menschheit Jammer wächst zur größeren Summe an, je umfassender die Untaten auf der Welt gezählt werden. Welch aberwitziger Gedanke, welch perverse Logik kann eine Rechnung aufmachen, in der sie statt dessen - mitsamt eigener Schuld! - verschwinden! Es geht jetzt aber nicht um kranke Gehirne oder bornierte Rechtsradikale:

Jahrzehnte lang stand nämlich gerade die seriöse, historisch sachliche Erforschung und öffentliche Darstellung von Verbrechen an Deutschen, insbesondere bei den Massenvertreibungen der Nachkriegszeit, unter dem Odium, daß darüber jedenfalls nicht laut zu reden sei. Denn das hieße, "Aufrechnung" zu betreiben -und was synonymer Vokabeln mehr ist, mit denen das Land überschwemmt wurde. ... Tempi passati, wie man jedenfalls hoffen möchte. Tabuisierung und öffentliche Unaufrichtigkeit zahlen sich niemals aus; ihr Erfolg kann nur kurzfristig sein und von zweifelhaftem Wert. Denn in Wirklichkeit verschwinden verpönte Themen nie, sondern sie wandern - zu den "Stammtischen" z.B., wo sie nicht immer richtig aufgehoben sind. Darüber kann man sich -im fatalen Zirkel! - wiederum trefflich empören.

5. Zurück zum 8. Mai! Das Datum hat einen normativen Inhalt insofern, als es die verfassungsmäßige Ausgangslage der späteren Bundesrepublik - heute läßt sich sagen: die Geburtsstunde des Jahrzehnte später wiedervereinigten Deutschlands - symbolisiert, nämlich die radikale Abkehr von der zertrümmerten Nazi-Barbarei und ihren Verbrechen. Darüber - wenn denn schon geredet werden muß - ein Wort zu verlieren, kann gewiß nur richtig sein. Die Erinnerungen aber, die der Tag entbindet, werden so mannigfach sein wie die Deutungen, die ihm zuteil werden. Sie lassen sich - Gott sei Dank! - weder kommandieren noch in ein verordnetes Korsett zwingen.