(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/95) < home RiV >
Der Beitrag - handelnd von der Freude, nach Berlin zurückzugehen, und von dem Leid, in einem Rechtsbeugungsverfahren mitzuwirken und hinterher vom BGH aufgehoben zu werden:
"Berlin, Dein Gesicht hat Sommersprossen
und Dein Mund ist viel zu groß"

So singt Hilde Knef, und so hatte ich die Insel Berlin (West) als Referendarin kennengelernt. Wir haben viele Ausflüge mit dem (gewisse Freiheiten in der DDR) gewährenden Berliner Personalausweis unternommen, Fontanes Spuren in der Brandenburgischen Sandstreubüchse, vom sozialistischen Zahn der Zeit angenagt, verfolgt; Luthers, seit 1986 "großer Bauernfreund" und deswegen auch in der DDR zu touristischen Würden gekommen (nicht ohne devisenträchtige Überlegungen ...), in Wittenberg und anderorts ebenso gedacht, wie des Alten Fritz und "seiner Truppen"(wie man auf DDR-Deutsch für Familien- und Freundeskreis sagt) in Sanssouci. Und natürlich waren wir in der "Hauptstadt der DDR", nicht zuletzt des guten Theaters wegen. Ein sonderbares Gefühl; vertraut und doch fremd, unsicher und so neugierig. Auswärtige Besucher bekamen regelmäßig eine abendliche Fahrradtour der besonderen Art verpaßt: durch den Tiergarten am Reichstag vorbei, entlang der Mauer, am Brandenburger Tor vorbei, am Potsdamer Platz auf's Türmchen klettern, "dann immer an der Wand lang" nach SO 36 (Kreuzberg) und schließlich in "der Henne" einen anständigen Pott Bier am Kanonenofen genießen. Gegenüber der Eingangstür wurde gewarnt "You are leaving the American Sector"; die Mauer verlief mitten auf der Straße. Die Michaelskirche im Osten konnte man hinsichtlich des Kirchturms in Natur, den Rest als Trompe D'oieul auf der Mauer bewundern; über allem thront Sankt Ulbricht, der Fernsehturm, in dem sich das Sonnenlicht in Form eines Kreuzes bricht.

Alles schaurig-schön, aber mein Leben wollte ich nicht auf dieser Insel verbringen. Ich ging nach Hamburg zurück, wurde Richterin und saß mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher - hätte ich bloß ... und könnte ich doch ...! Nach einer Weile fand sich ein Weg. Ich wurde beurlaubt, um im Direktorat Sondervermögen der Treuhandanstalt zu arbeiten - hoheitliche Verwaltung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR. Die Aufgabenbeschreibung ist etwa so lang, wie die Rechtsgrundlage im Einigungsvertrag, nämlich zwei Sätze. Unternehmen, Immobilien (echte Filetstücke) und unendlich viel Geld, vieles davon unbekannten Aufenthalts, standen unter dem Kuratel des Direktorates. Arbeitsplatz: Alexanderplatz, Kollegen zur Hälfte Ost, zur Hälfte West. Mein täglicher Weg zur Arbeit: durch den Tiergarten, am Reichtstag vorbei, durch das Brandenburger Tor (weiche Knie ...), Unter den Linden entlang, vorbei am Fernsehturm bis zur Ankunft im schönsten Plattenbau. Es hat lange gedauert, bis ich nicht mehr wie ein kleines Kind im Spielzeugladen über diese neuen Umstände, über die täglichen Veränderungen in der Stadt staunte und mich geradezu jubilierend freute.

Nach zwei Jahren - die Hamburger Justiz hatte die Zeit bei der Treuhandanstalt auf meine Probezeit als Richterin anerkannt und mich zwischenzeitlich auf Lebenszeit ernannt - meldete ich mich bei der Berliner Justiz und wurde einer Großen Strafkammer zugewiesen: "Da beginnt ein Rechtsbeugungsprozeß, Sie sind Berichterstatterin." Na prima. Ich, mit meinen knapp 14 Monaten "Schnell-Gericht"-Erfahrungen bei Herrn Schnegelsberg, und nun sowas. Zwei Urteile zur Rechtsbeugung gab es bisher vom BGH; der Prozeß artete in Lesestunden aus - die wirklich spannende Arbeit spielte sich in der Bibliothek im Kriminalgericht in Moabit und in den Beratungen ab. Die fabelhaften Bibliothekarinnen hatten während der Wende die Bestände in der Littenstraße, wo das Oberste Gericht der DDR saß, geplündert. Aus Schuhkartons förderte ich die persönlichen (!) Exemplare der Dienstanweisungen ("nur für den Dienstgebrauch") unserer Angeklagten zu Tage - und fand allerlei interessante Details, an denen man meines Erachtens eine Verantwortung des einzelnen Staatsanwalts, des einzelnen Richters für bestimmte Anklagen und Verurteilung knüpfen kann. Es war eine kleine Sysiphus-Arbeit, und davon gibt es viele vergleichbare und einige wesentlich umfangreichere zur Zeit in Berlin.

Das Ende vom Lied ist allen bekannt. Am 15. September 1995 schränkte der BGH die Strafbarkeit von Anklageerhebungen, Strafanträgen und Verurteilungen eigentlich auf die Fälle ein, in denen Tatvorwurf und Strafhöhe außer Verhältnis standen. Eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung "dem Grunde nach", also weil der Sachverhalt nicht den gesetzlichen Tatbestand des StGB-DDR erfüllte (z.B. weil Vorbereitungshandlungen als Versuch angeklagt wurden), scheint danach kaum noch möglich. Auch unser Urteil wurde im wesentlichen aufgehoben. Mit dem Inhalt der Vorgaben, die das Oberste Gericht und der Generalstaatsanwalt der DDR ausgegeben hatte, mit den Konsequenzen, die ein Richter oder Staatsanwalt hätte gewärtigen müssen, wenn er genau subsumiert und dann in einigen Fällen zur Straflosigkeit des politisch unerwünschten Verhaltens gekommen wäre, hat sich der BGH nicht beschäftigt. Vielmehr hat er zuweilen sogar die eindeutige Mißachtung des Gesetzeswortlauts toleriert, weil sie der Durchsetzung politischer Ziele der Partei dienten. Dabei ergänzt der BGH zuweilen die Ausführungen unserer Angeklagten durch Mutmaßungen und macht sie so erst schlüssig. Mit den Materialien, die wir unseren Erwägungen im Urteil vorangestellt haben, hat sich der BGH mit keinem Wort auseinandergesetzt. Er schöpft aus seinem - westlichen - Vorverständndis von der Justiz in der DDR.

Wenn man sich mit Materialien zur Rechtswirklichkeit in der DDR beschäftigt, zeigt sich nach meinem Eindruck, daß nicht die gesamte Justiz ein willenloses Werkzeug der Partei war. Und es gibt Biographien, die beweisen, daß man mit bestimmten Verhaltensweisen vermeiden konnte, an solchen politischen Strafverfahren mitwirken zu müssen. Wenn Wolf Biermann im Prozeß gegen die Richter, die Robert Havemann seinerzeit verurteilten, ausgesagt hat, die Juristen seien die "letzten Mauerschützen der DDR-Justiz" und Gregor Gysi, damals Verteidiger Havemanns, ein "Postbote der Mächtigen" gewesen, so entlastet er diese Menschen nicht. Rädchen eines Systems sind nicht notwendig ihrer Intelligenz und moralischen Wertungsfähigkeit beraubt oder gar schuldunfähig. Die Kategorien geraten durcheinander, und das unendliche Leid und Unrecht, das diese Menschen über die Gruppe derer gebracht haben, die letztlich den Herbst 1989 möglich gemacht haben, bleibt nahezu ungesühnt. Wie so häufig in unseren Strafprozessen, spielen die Opfer in diesen Verfahren keine nennenswerte Rolle. Sie werden freundlich, aber bestimmt, auf Rehabilitationsverfahren und (wenn man Rummelsburg & Co. gesehen hat) abenteuerlich geringe Haftentschädigungen verwiesen. Was ihnen fehlt, ist die Sühne der Täter. Und ich bin sicher, kaum einer will diese Menschen, die zumeist fortgeschrittenen Alters sind, in einen Knast nach westdeutschem Standard stecken. Aber die Schmach eines Urteils - und einer ordentlichen Bewährungsauflage - wäre dort, wo es dem Gesetz entspricht, aus der Sicht der Opfer eine Reaktion des Rechtsstaats, die ihnen auch ein Gefühl von Gerechtigkeit vermitteln würde.

Obwohl der Bundesanwalt in der mündlichen Verhandlung vor dem Berliner Senat des BGH die Einzelfälle sehr differenziert erörtert hat, verstummte der pauschale Vorwurf der "Siegerjustiz" seitens der Angeklagten nicht. Ihrerseits hielten sie jedoch kein detailliertes Plädoyer. Knickt die Justiz vor diesem Vorwurf ein? Warum fassen wir die "Kollegen" aus dem Osten nicht an ihren eigenen Maßstäben, die sich aus den vielen Materialien ergeben, selbstverständlich rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügen, aber meines Erachtens weiter gehen als die vom BGH gezogenen Grenzen der Verantwortlichkeit?

Menschen im Ostteil dieser Stadt und in der ehemaligen DDR haben die Wiedervereinigung mit ihrem aufrechten, mutigen und entschlossenen Gang möglich gemacht. Hinsichtlich des Verlaufs vieler Prozesse ist die Stimmung unter ihnen von zumindest Resignation und Enttäuschung geprägt. Vieles läßt sich nicht anders machen, wenn an grundlegenden Verfahrensprinzipien festgehalten werden soll. Aber der kleine Spielraum, der bleibt -wird er "gerecht" ausgenutzt, berücksichtigt er Opfer und Täter in gleichem Maß?

"Berlin, Dein Gesicht hat Dackelfalten und du fragst nie, was mach' ich bloß? - so geht das Lied von Hildegard Knef weiter. Es gibt aber viele Berliner, die sich fragen, was die Justiz hier bloß so macht. ...

Anke Jenckel, geb. Jark