(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 4/96) < home RiV >
Der obligatorische
Einzelrichter
- das trojanische Pferd -

Der Bundesgesetzgeber rührt sich wieder. Nachdem die Erhöhung der Streitwertgrenze Amtsgericht/Landgericht auf DM 10.000,-- im Rahmen des letzten sogenannten Rechtspflegeentlastungsgesetzes sich als eindrucksvoller Flop herausgestellt hat - es sollten vorgeblich die neuen Bundesländer mit Stellen, die durch diese gesetzgeberische Maßnahme frei zu werden man sich erhoffte, bedacht werden. Ich glaube, es ist in den neuen Bundesländern keine einzige Stelle angekommen -, soll der Weg inhaltsloser Konzeptionslosigkeit offensichtlich weiter beschritten werden. Der obligatorische Einzelrichter am Landgericht (zuständig für Rechtsstreitigkeiten bis 30.000,-- DM) muß nunmehr als Stein des Weisen herhalten. Eine Maßnahme, die schlechterdings überhaupt keinen Sinn macht.

Die Zivilkammer (oder Große Strafkammer) ist idealer Ort für den Berufsbeginn des junggen Richters. Hier kann er die notwendige Anleitung und Betreuung erhalten. In anderen Bundesländern wird dies im übrigen wesentlich konsequenter gesehen und gehandhabt. Dort gibt es einen Berufsstart z.B. am Amtsgericht nicht. Warum nun ein Assessor am Landgericht eigen- und alleinverantwortlich Rechtsstreitigkeiten bis zu einem Streitwert von DM 30.000,-- entscheiden können soll, der erfahrene Amtsrichter hingegen nur solche bis zu einem Streitwert von DM 10.000,-- , möge mir einer einmal erkären. Zudem ermangelt es bislang jeglichen Nachweises dafür, daß der Einzelrichter am Landgericht mehr, schneller und qualitativ besser entscheidet als die Kammer.

Der eigentliche Grund der Verstimmung ist jedoch, daß wir es hier - nun zum wiederholten Male - mit einem verkappten "Doppelbeschluß" zu tun haben. Der obligatorische Einzelrichter wird genannt, gemeint ist aber das Sparen. Dem Gesetzgeber folgt nämlich die Pensenkommission dicht auf den Fersen, um gleich nach dem gesetzgeberischen Akt an der Pensenschraube zu drehen. Dies alles wird erneut ins Leere gehen. Schon bei der letzten Anhebung der Streitwertgrenze - ich war seinerzeit noch Mitglied der Justizbehörde - habe ich, wie viele andere, prophezeit, daß die angestrebten Ziele verfehlt würden. So kam es dann auch. Außer Spesen nichts gewesen, und zwar Spesen im Sinne eines erheblichen Verwaltungs- und Organisationsaufwandes, von den Verteilungsreibereien zwischen den Gerichten einmal ganz abgesehen. Daher erneut mit aller Deutlichkeit: Die hier diskutierten Maßnahmen sind nicht geeignet, die Spardose der Justiz zu füllen.

Im übrigen: Wo liegt die konzeptionelle, reformerische Perspektive? Eine weitere Verschiebung der Streitwertgrenze, ein Ausbau des obligatorischen Einzelrichters am Landgericht? Letztendlich zwei Eingangsgerichte mit Einzelrichtern für unterschiedliche Streitwerte? Die Kammer nur noch als inhaltsleeres Etikett? Das alles paßt vorne und hinten nicht, fügt sich nicht zu einem organischen Ganzen.

Wie sagt unser Justizsenator doch sehr zu recht: Sparmaßnahmen dürfen nur Anlaß für Reformen sein, sie dürfen die reformerischen Inhalte nicht maßgeblich bestimmen. Oder: Es dürfen nur solche Reformen durchgeführt werden, die allemal, also unabhängig von Sparzwängen, geboten wären. Diese Kontrollfrage kann nicht häufig genug gestellt werden. Sie beantwortet sich für den vorliegenden Fall von selbst.

Wie sähe eine überzeugende Perspektive aus? Den Königsweg gibt es nicht. Dennoch: Der dreistufige Gerichtsaufbau wäre eine Justizreform, für die sich mit überzeugenden Argumenten streiten ließe. Viele Konzepte liegen auf dem Tisch, die Bedenken Rechnung tragen und vielen Interessen und Anliegen gerecht werden. Wir wären auf diesem Wege schon ein gutes Stück weiter, wenn nicht bar jeglicher Sensibilität und ohne rechtes justizpolitisches Gespür der dreistufige Gerichtsaufbau in den neuen Bundesländern abgeschafft worden wäre, eine Maßnahme ohne Not, ohne Sinn und Verstand. Hier gab es die einmalige Chance, zwei Systeme parallel laufen zu lassen und Erfahrungen mit Vor- und Nachteilen zu gewinnen. Diese Chance ist vertan, im übrigen auch die Chance, mit dieser "Parallelität" etwas für das Selbstwertgefühl der Bürger in den neuen Bundesländern und damit für die Überwindung der Spaltung zu leisten. Aber das ist ein Thema für sich.

Immer wenn es bei dem Bundesgesetzgeber zu Justizfragen rumort, richten sich unsere Blicke voller Bangen gen Bonn. Nicht, weil es etwa an Handlungsnotwendigkeiten fehlen würde, nein, weil vielmehr das, was dabei herauskommt, ganz häufig neben der Sache liegt. Unser aller Bedarf an hölzernen Rössern ist gründlich gedeckt. Was wir dringend benötigen: Ruhe vor gesetzgeberischem Aktionismus oder aber inhaltlich überzeugende Konzepte, die nicht nur Finanzminister erfreuen sollen, sondern insbesondere der Sache der Justiz dienen.

Heiko Raabe