(Dieser Artikel ist veröffentlicht in MHR 2/99) < home RiV >

Richterliche Mitteilungspflicht und Richterethik
- Ein Dialog -

Anläßlich der Rezension über das Buch "Vultejus, Nachrichten aus dem Inneren der Justiz" in MHR 1/1999, 38 entspann sich ein Briefwechsel zwischen dem Rezensenten Hirth und dem Autor Vultejus, den wir auszugsweise wiedergeben:

Hirth, MHR 1/99, 39:

... Nicht so ganz klar ist, wie weit Vultejus zu gehen bereit ist mit seiner Ansicht, im Prozeß bekannt gewordene Straftaten nicht den Behörden zu melden, um das Vertrauen der Bürger in die Richter und ihre Verschwiegenheit nicht zu gefährden.

Vultejus 07.04.99:

Heftig widersprechen möchte ich nur in einem Punkt, Ihrem Unverständnis für das "Datengeheimnis des Richters". Ich sehe die Verfahrensbeteiligten als dem Richter anvertraut, auch mit ihren Schwächen und Fehlern. Sie haben zu recht bemerkt, daß ich für meine Angeklagten immer Sympathie empfunden habe. Auch in einem von den Menschen verworfenen Menschen wohnt eine unsterbliche Seele, die ihm Gott geschenkt hat. So vergleiche ich den Richter eher mit dem Arzt. Und Vertrauen setzt Verschwiegenheit voraus! Das habe ich besonders als "Dorfrichter" in Bad Harzburg gelernt. Dort weiß man sehr viel mehr als ein Stadtrichter, und deshalb können die Entscheidungen den Menschen auch eher gerecht werden, aber man wäre schnell am Ende seiner Kunst, wenn man petzen würde.

Hirth, 07.04.99:

Daß Ihre und meine unterschiedlichen Sichtweisen bzgl. des "Datengeheimnisses des Richters" daran liegen könnten, daß ich "Stadtrichter" bin, ist ganz bestimmt richtig. Es kommt hinzu, daß ich am Landgericht typischerweise mit größeren Streitwerten – also in der Regel nicht mit den "kleinen Leuten" – befaßt bin. Und da ärgert es mich immer sehr, wenn gutsituierte Personen sich nicht genieren, nur um eines weiteren Vorteils willen vor dem Gericht auszubreiten, alles seien nur Scheingeschäfte gewesen, um gemeinsam die Bank oder das Finanzamt zu betrügen. Gleich morgen habe ich wieder so einen Fall: ein Investor soll Architektenhonorar für ein Millionenobjekt in allererster Adressenlage bezahlen (Elbchaussee in Blankenese). Investor und Architekt waren mal sehr miteinander befreundet und hatten auch gemeinsame Gesellschaften. Wegen eines kleinen noch ausstehenden Rests bezichtigen die Parteien sich nun wechselseitig des Scheingeschäfts ("wegen der Bank") für die ihnen ungünstigen Schriftstücke, die die jeweils andere Seite vorlegt. Da kann einem doch die Galle hochkommen, und da habe ich nicht das geringste Bedürfnis, mir irgendein Vertrauen beider Parteien in meine Verschwiegenheit zu erhalten, wo mich das Gesetz zur Mitteilung an die StA zwingt. Krasser Einzelfall? Keineswegs! Erst letzte Woche ... und vorletzte Woche ... Leider sind im beschriebenen Fall die Straftaten verjährt; gern hätte ich sonst Mitteilung gemacht. Und auch in den anderen Fällen gab es immer ähnliche triftige "außermenschliche" Gründe für mich, keine Mitteilung an die StA zu machen. Mehrere Jahre her ist es, daß ich das letzte Mal Mitteilung an die StA gemacht habe. Gern hätte ich manchmal keine Gründe für mein Unterlassen gefunden.

Letztes Jahr habe ich allerdings einmal Mitteilung an die Ärztekammer gemacht. Zwei sich streitende Ärzte habe ich "verpetzt", weil sie eine gemeinsame Patientin für ihren Streit mißbrauchten. Der eine war Allgemeinmediziner, der andere Kardiologe. Ihre Praxen waren einander benachbart (keine Sozietät). Sie befanden sich wegen verschiedener Sachen mehrfach in Rechtsstreit.

Diesmal nahm der Kardiologe den Allgemeinmediziner auf Unterlassung einer Äußerung in Anspruch. Der Allgemeinmediziner soll zur Patientin gesagt habe, daß vom Kardiologen verordnete Medikament gefährde akut das Leben der Patientin. Das kam natürlich dem Kardiologen zu Ohren. Beide Parteien beriefen sich auf die Patientin als Zeugin, die gerade wegen psychischer Probleme beim Allgemeinmediziner in Behandlung war.

Die labile Patientin wurde in das nunmehr angestrengte strafrechtliche Ermittlungsverfahren hineingezogen und dort mehrere Stunden verhört. Nachdem bei mir ein Vergleich an mangelnder Einigung über Kosten in Höhe von 500,-- DM gescheitert waren, wollten die Parteien dann die Zeugin "auseinandernehmen". Das Schlimmste konnte ich zwar gottlob verhindern. Aber für mehrfache Weinkrämpfe der zerbrechlichen Frau bei mir reichte es allemal; und das wegen einer lächerlichen Unterlassungsklage bzw. 500,-- DM Kosten.

Um eine Strafanzeige insbesondere wegen Verletzung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht im Rahmen des ohne Zustimmung der Patientin geführten Prozesses brauchte ich mir keine Gedanken zu machen, denn die Parteien hatten sich selbst gegenseitig bei der StA angezeigt, wenn auch nicht gerade wegen des Verschwiegenheitsproblems.

Nach anonymisierter Schilderung des Streits auf Kosten der Patientin zeigte sich die Ärztekammer sehr an der Akte interessiert. Lange habe ich dann gebraucht, bis meine Suche nach einer Rechtsgrundlage für eine Mitteilung bei großzügiger Auslegung in dem neuen § 17 EGGVG Erfolg fand. Daß ich damit das Vertrauen der sich streitenden Ärzte verlieren könnte, war meine geringste Sorge. Der Schutz dieses und künftiger Patienten war mich wichtiger.

Mit meinen beiden Praxisbeispielen möchte ich Ihnen zeigen, daß gerichtliche Mitteilungen bei aller Skepsis auch auf generalpräventive Effekte (kein Sich-Brüsten mit Sittenwidrigkeiten) und auf Verbraucherschutz angelegt sein können.

Letzteres gilt insbesondere auch bei den von Hamburg angeordneten Mitteilungen an die Rechtsanwaltskammer von Klagen gegen Rechtsanwälte. Gerade erst vor wenigen Tagen stand ein Fall in der Hamburger Presse, daß ein Notar Mandanten durch Veruntreuungen geschädigt hat, was – gemäß späteren gerichtlichen Feststellungen! – konkret verhindert worden wäre, wenn der zuständige Richter von den bemerkten anderen Unregelmäßigkeiten rechtzeitig Mitteilung gemacht hätte.

Ich kann mir kaum vorstellen, Herr Vultejus, daß Sie die von mir beschriebenen Fälle gerichtlichen Verpetzens anders beurteilen als ich. Dann darf dieses Recht aber nicht nur gegen Reiche gelten; es gilt gegenüber jedermann, auch gegenüber dem kleinen Mann. Unterscheidungsspiel-raum kann es nur im Rahmen der Gesamtabwägung aller Umstände geben, und dazu gehören sicher auch die von Ihnen in Ihrem Brief und in Ihrem Buch angegebenen Gründe für ein Unterlassen der Mitteilung.

Vultejus, 10.04.99:

Sehr geehrter Herr Hirth!

Sie helfen mir mit Ihren Texten sehr viel weiter. Bei unserem jetzigen Disput ist mir wieder aufgefallen, daß wir keine eigenständige "Richterethik" haben. Wir sind so erzogen, daß wir glauben, das Notwendige ergebe sich aus dem Gesetz. Auch der Gedanke an die richterliche Unabhängigkeit mag der Entwicklung einer eigenständigen gemeinsamen "Richter-ethik" im Wege stehen, obwohl sie im Gegenteil die Stellung der Richterschaft insgesamt gegenüber der Justizverwaltung stärken würde. So verschenken wir einen Teil der Würde unseres Berufs.

Die Ärzte haben jedenfalls den freilich wackligen Eid des Hippokrates: Sie haben auch bei den Ärztekammern "Ethikkommissionen". Es gibt auch eine eigenständige, ebenso wacklige "Offiziersehre". Über sie haben die Verschwörer des 20. Juli sehr eingehend diskutiert, als sie sich anschickten, ihren Oberbefehlshaber zu töten. Auf die Offiziersehre haben sich im letzten Weltkrieg viele der von uns eher geringer geachteten italienischen Offiziere berufen, als man ihnen Unehrenhaftes zumuten wollte.

Es ist ein alter Traum von mir, über Deutschland hinaus einen ethisch begründeten Richterkodex zu entwickeln, in dem festgelegt wird, bis zu welchen Grenzen Richter ihren Beruf und ihre Berufsehre den Staaten zur Verfügung stellen, in denen sie tätig sind. So habe ich zum Beispiel in einem persönlichen Gespräch den Richtern der türkischen Militärgerichte schon damals gesagt, sie könnten nicht von uns als gleichwertige Kollegen anerkannt werden, wenn sie nicht energisch gegen jegliche Folter einschritten. Das hat sie damals sehr nachdenklich gemacht.

In diesen Kodex würde zum Beispiel die richterliche Verschwiegenheit gehören. Ich empfinde es z.B. als Skandal, daß bei uns Richter kein eigenständiges Aussageverweigerungsrecht haben, sondern von der Aussagegenehmigung ihres Dienstvorgesetzten abhängen. Erteilt dieser die Aussagegenehmigung, so müssen sie aussagen. Dies betrifft sogar, rein juristisch gesehen, das Beratungsgeheimnis, obwohl kein Dienstvorgesetzter es wagen würde, hier eine Aussagegenehmigung zu erteilen. Aber wer weiß, etwa in Verfahren wegen Rechtsbeugung? Ich habe dieses einmal selbst sehr unangenehm erlebt und mich nur mit Hilfe meines Dickschädels durchgesetzt. Ein Familienrichter hatte von der Mutter einer Ehescheidungspartei die illegale Pistole ihres Schwiegersohns überreicht bekommen, und ich hatte als amtierender Behördenchef sie von dem Richter überreicht bekommen und wollte im Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes den Familienrichter und die Schwiegermutter schützen.

Inhalt und Grenzen der richterlichen Verschwiegenheit sind, wie mir anhand Ihrer Beispiele deutlich geworden ist, auch mir unklar. Darum will ich zu Ihren Beispielen im Augenblick nichts sagen. Nur so viel: Sie zählen zu den zahlreichen Menschen, die mit Hilfe des Strafrechts eine irdische Gerechtigkeit herstellen und gegen das Böse kämpfen möchten. Trotz meiner Zweifel an diesem Weg haben Sie ja vielleicht recht. In einem Fall – und das sind zum Teil Ihre Beispiele – würde ich immer eine Mitteilung machen, nämlich dann, wenn es gilt, künftigen Gefahren zu wehren. Beispiele wären etwa auch körperliche oder sexuelle Mißhandlungen im Familienverbund. Ich selbst habe einmal das Straßenverkehrsamt davon unterrichtet, daß ein Kraftfahrer wegen psychischer Defekte zum Fahren von Kraftfahrzeugen ungeeignet erschien. Eine dagegen gerichtete Dienstaufsichtsbeschwerde ist vom LG- Präsidenten nach Formular wegen der richterlichen Unabhängigkeit zurückgewiesen worden.

In einen Richterkodex würde auch das richterliche Gewissen gehören. Das richterliche Gewissen kommt in keinem Gesetzestext vor, nicht in der Verfassung und nicht im Richtergesetz. Nur in der Eidesformel ist es genannt. Das Gewissen ist individuell, und doch darf kein Richter eine gesetzestreue, gegen sein Gewissen verstoßende Entscheidung ablehnen. Muß ein Richter nicht ohne Wenn und Aber sich selbst unter Berufung auf sein Gewissen ablehnen können mit der Folge, daß ein anderer Richter entscheiden müßte? Das könnte heute in Asyl- und Abschiebungsverfahren praktisch werden.

Ferner gehört hierher das absolute Strafmaß, bei uns im § 211 StGB. Muß man nicht fordern, daß das Gesetz immer einen Strafrahmen zur Verfügung stellt, um eine individuell gerechte Strafe zu ermöglichen? Der BGH hat einmal eine zeitige Freiheitsstrafe bei einem Mord aus den Besonderheiten des Einzelfalls (Die Rettung der Familienehre durch einen Türken) gebilligt. Früher hatten wir etwas abseitig im Rundfunkrecht als absolutes Gebot die Einziehung des Rundfunkgeräts beim Schwarzhören. Als Hilfsrichter in einem (natürlich streng konservativen) Strafsenat des OLG Celle habe ich dem Senat vorgeschlagen, sich dieser absoluten Strafdrohung zu verweigern und bin zu meinem Erstaunen ohne große Diskussion auf volle Zustimmung gestoßen. Das Gesetz ist auf die veröffentlichte Entscheidung hin still geändert worden und aus der Muß- ist eine Kannbestimmung geworden.

Ihren Fall mit der unglückseligen Patientin zwischen zwei Ärzten hätte ich anders gelöst. Die Patientin sagt ja aus, um ihrer staatlich verordneten Zeugenpflicht zu genügen. Diese Pflicht besteht aber nur im Rahmen des Zumutbaren, wie die festgelegten Zeugnisverweigerungsrechte zeigen, die ich eher als erweiterungsfähige Beispiele werten möchte. Wenn die Aussage die Patientin, auch auf Grund ihres Gesundheitszustandes, außergewöhnlich stark beeinträchtigt, so muß man die Belastung der Zeugin mit der Bedeutung des Prozesses für die Verfahrensbeteiligten und mit der Bedeutung der Aussage in dem Prozeß abwägen. In diesem konkreten Falle also keine Aussagepflicht. Man kann die Begründung auch höher hängen – das mache ich ungern – und von der Achtung der Menschenwürde nach Art. I GG sprechen. Wenn man boshaft ist, kann man, da es sich um einen Streit zwischen Ärzten gehandelt hat, auch von "nihil nocere" (Hippokrates) sprechen. Und dann, hier stehe ich vollkommen auf Ihrer Seite, ab mit den Akten zur Ärztekammer zur Prüfung der ehrengerichtlichen Seite. Aber vorher Androhung und Gelegenheit, die Klage folgenlos zurückzunehmen.

Und noch zwei Kleinigkeiten zum Schluß. Ich kenne Herrn Dr. Makowka persönlich und habe von ihm auch sein Buch verehrt bekommen. Ich schätze Makowka sehr; ein Wunder, daß ein solcher Mann LG-Präsident geworden ist. ...

Mitgeteilt von Wolfgang Hirth