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„Versammlungsfreiheit auch für Rechtsextremisten?“

- Professor Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem beim Kommu-Verein -

Es hat seinen eigenen Reiz, aus der mit allen geteilten Gegenwart an frühe Orte der je eigenen Biographie zurückzutauchen. Daran erinnerte Hoffmann-Riem[1] sein zahlreich erschienenes Publikum am 20. Februar d. J. im Plenarsaal des OLG, ehe er - seitwärts des Spruchs „Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht“, der manche Phase auch seines Lebens steinernen Auges begleitet hatte - auf sein eigentliches Thema zu sprechen kam. Aber bei Licht betrachtet gehörte die Erinnerung an aufsässige Studenten, Referendare und ihre frühen Protestformen, die man auch in Hamburg erst einmal verkraften musste, schon zur Sache selbst: War es doch die später als „68er“ bezeichnete Generation, die den Art. 8 GG aus seinem Dornröschenschlaf gerissen hatte, indem sie plötzlich Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit praktizierte und dabei Störungen der bürgerlichen Ordnung in Kauf nahm, ja es auf sie geradezu angelegt hatte[2]. Die Gesellschaft zwar war irritiert, auch an der Drehbahn hielt sich die Freude in Grenzen.

Aber das BVerfG erkannte die Zeichen der Zeit und verfocht von Anfang seiner Rechtsprechung an ausgesprochen liberale und freiheitliche Grundsätze – in betonter Abkehr von der noch deutlich erinnerten Meinungsdiktatur und Jakobinerherrschaft der Nazizeit. Der hohe Rang der Meinungsfreiheit wird erstmals im Lüth-Urteil vom 15.01.1958[3] fast hymnisch beschworen, später ihre innige Verknüpfung mit dem Versammlungs- und Demonstrationsrecht hervorgekehrt - prägnant und ausgesprochen demonstrationsfreundlich im Brokdorf-Beschluss vom 14.05.1985[4]:

„Als Abwehrrecht, das auch und vor allem anders denkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung ... (Es gebührt) dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staat ein besonderer Rang ..., (und) galt von jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers ...“.

 

Nun waren Kundgebungen, Demonstrationen, Aufzüge und Versammlungen, mit denen diese Rechtsprechung sich zunächst beschäftigen musste, im Selbstverständnis des Protests „links“[5], auch im Sinne medialer und sonst üblicher Zurechnungen[6]. Irgendwann – sicherlich schon lange vor der deutschen Wiedervereinigung (1990), dann aber mit wachsender Unruhe öffentlich wahrgenommen – änderten sich die geläufigen Zustände (= „bürgerlich-saturierte Gesellschaft mit aufsässigem linken Rand“) und wurden unübersichtlich.

Die allenthalben beklagte „Politikverdrossenheit“ war in den neuen, aber auch alten Ländern nicht wirkungslos geblieben und hatte Protestgruppen[7] und -Parteien hervorgebracht, von denen sich oft kaum sagen ließ, ob sie nun links, rechts oder etwas undefiniertes Drittes waren[8]. Galten die liberalen Grundsätze der Verfassung - Demonstrations- und Meinungsfreiheit zumal, deren Rang und Unverbrüchlichkeit das BVerfG immer wieder herausgestellt hatte – wirklich für alle, auch für „Rechte“: für „Reaktionäre“, „Ewig Gestrige“, „Nationalisten“, „Revisionisten“, „Völkische“, gar auch für „Rechtsextreme“, „Faschisten“, etwa sogar für „Nazis“ oder andere ideologisch hochsuspekte Gruppen?

Die Antwort des Referenten fiel klar und eindeutig aus: Sie gelten – und zwar uneingeschränkt! Auch unliebsame Meinungen könnten von Verfassungs wegen die Freiheit öffentlicher, freier Artikulation beanspruchen – natürlich auch sie nur innerhalb der vom Rechte allen gleichermaßen gesetzten Grenzen[9]. Dieser verfassungsgerichtliche Grundsatz sei inzwischen in der - zumal verwaltungsgerichtlichen - Praxis fest verankert.

Das war freilich, worauf der Kollege Focken schon einführend hingewiesen hatte, früher weniger sicher gewesen: Das OVG Münster - zuständig für das Bundesland mit den vergleichsweise meisten NPD-Demonstrationen und ähnlichen Aufzügen – hatte nämlich auf dem Standpunkt beharrt, es gäbe Meinungen (wie Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Nazismus udgl.), die nicht etwa nur „politisch missliebig“, sondern schon als Anschauungen verfassungswidrig seien, und deren öffentliche Artikulation bereits als solche, auch ohne weitere Rechtsverletzungen, unterbunden werden könnten. Deshalb sei es rechtsirrig, wenn die zuständige 1. Kammer des BVerfG allen Meinungen gleichermaßen Freiheitsschutz gewähre: Weil das Grundgesetz selbst durchaus nicht meinungsneutral sei, dürfe es auch die Rechtsprechung nicht sein[10].

Dieser Streit scheint in der Tat mittlerweile – jedenfalls im hierarchischen Sinne – erledigt zu sein: ausgeräumt zunächst der Einwand, diese Grundsatzfrage könne nicht von drei Richtern, sondern müsse vom ganzen Senat mit acht Stimmen entschieden werden[11]; dieser hat sich nämlich mit Beschluss vom 23.06.2004 vollen Umfangs und mit überzeugenden Gründen auf den Standpunkt seiner 1. Kammer gestellt und sich deren Argumente für einen uneingeschränkten Schutz der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit Punkt für Punkt zu eigen gemacht[12]. Soweit das Gegenteil behauptet wird, spricht daraus wohl die enttäuschte Erwartung, der Senat werde der Kammer schon noch in die Parade fahren[13].

 

Hoffmann-Riem bot nun einen kleinen Einblick in die Praxis seiner Kammer:

Die einschlägigen Akten gehen dort regelmäßig im Eilverfahren ein, nachdem Behörden und Gerichte Versammlungen ganz oder (durch Auflagen) partiell verboten haben – und die Beschwerden sind oft erfolgreich[14]. Die Motive der Behörden, Kundgebungen der fraglichen Art zu verhindern oder zu strangulieren, seien rein psychologisch in der Regel durchaus verständlich: Antipathie gegenüber dem Personenkreis der Anmelder und Angst vor Krawallen und Gewalt, die stets auf dem Rücken der Polizisten ausgetragen würden, die freilich in aller Regel nicht von den „Rechten“ drohten (die froh seien, wenn man sie unbehelligt demonstrieren lasse), sondern den gleichfalls angemeldeten und stets in hoher Überzahl erwartbaren „linken“ Gegendemonstranten. Ein tragfähiger Verbotsgrund seien aber weder Antipathie noch die Sorge vor Störung von dritter Seite.

Die Rechtslage mute Polizei und Behörden oft Missliches zu und lasse sie auf gewagte Auswege verfallen:

„Hätte ich die Akten über die von mir aus verfassungsrechtlicher Warte geprüften Entscheidungen nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte nicht geglaubt, dass einzelne Behörden und Gerichte in diesem Feld so nachhaltig fehlerhaft handeln würden. Manche Entscheidungen erwecken den Eindruck, als sei mit großer Fantasie nach Gründen gesucht worden, wie man die jeweiligen Versammlungen verbieten kann - und dies, obwohl das GG vom Grundsatz ‚im Zweifel für die Freiheit’ ausgeht und die Beweislast für das Vorliegen einer Gefahr, derentwegen eine Versammlung verboten werden darf, bei der Behörde liegt. Es entsteht hier manchmal der Eindruck, als werde hier ein spezieller, die Rechtsextremisten besonders treffender Maßstab angelegt oder als gäbe es besondere Instrumente zur Verhinderung ihres Freiheitsgebrauchs ...“[15].

Der Referent hatte als junger Jurist in den USA registriert, wie robust dort die Meinungsfreiheit – unter Einschluss selbst von „Hassrede“ - durchgesetzt und vom Obersten Gericht als heiliges Bürgerrecht verteidigt wurde (und wird)[16] – ein Rigorismus, der für uns kein Muster sein könne - aber doch Anlass zum vertieften Nachdenken über die Freiheit der Rede und ihre stets prekären Grenzen.

Der Redner streute diskussionsweise die interessante aber nur kurze Bemerkung ein, in der gesellschaftlichen Realität, die ihre eigenen Regeln habe, lägen die USA und Deutschland, was unsere Frage anlange, vermutlich weniger weit auseinander, als die Theorie glauben machen könne. Dem weiter nachzugehen, wäre wohl nicht reizlos[17], wie man sich denn überhaupt der Einsicht nicht verschließen darf, dass rechtliche Grundsätze und gesellschaftliche Praxis zwei durchaus verschiedene Paar Schuhe seien können. Einer Gesellschaft etwa, der die Tugend der Toleranz nichts mehr bedeutet, würde das BVerfG, würde selbst die gesamte Rechtsprechung vom hohen Gut der Meinungsfreiheit in taube Ohren predigen[18]. Ermutigend also, dass Hoffmann-Riem im Plenarsaal des HansOLG offene Ohren fand.

 

Günter Bertram

 


[1] Er ist seit 1999 Richter im Ersten Senat des BVerfG, dort zugleich Mitglied der 1. Kammer dieses Senats; er war zuvor – seit dem 20.09.1995 – als Nachfolger Klaus Hardrahts - Präses der Justizbehörde Hamburg (vgl. Roland Makowkas Begrüßung des neuen Senators, MHR 4/1995, S. 3: Der neue Justizsenator und der alte Weihnachtsmann.

[2] vgl. dazu und auch zum folgenden Hoffmann-Riem: Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten? – Grundsatzüberlegungen zum Gebot rechtsstaatlicher Toleranz, in NJW 2004, 2777 - 2782, dort Ziff. II.

[3] vgl. NJW 1958, 257: „... Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck menschlicher Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ... Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist ... Es ist
in gewissem Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt. ...“

[4] NJW 1985, 2395

[5] So führt auch der Senat (NJW 1985, 2398 r. Sp.) „ ... Gorleben-Trecks 1979, Friedendemo 1981, Menschenkette 1981 .. “ an - quasi als Muster.

[6] Zur Fragwürdigkeit dieser Zurechnung, aber auch zur Unmöglichkeit, ohne diese abgegriffene Münze ganz auszukommen: Bertram MHR 4/2003, 36: Die Kultur als Machtfrage („links und rechts“), auch NJW 2004, 344: Hoheitliche Tugendwächter

 

[7] War der frühere Protest gegen das SED-Regime linker oder rechter Natur gewesen – von Wolf Biermann, Robert Havemann bis zum Neuen Forum? Steht die PDS – in Sinne herkömmlich linker Ideale – wirklich „links“?

[8] Das ist Hamburger Stadtgeschichte geworden: Die STATT-Partei Markus Wegners z.B. - deren Sache Prof. Hoffmann-Riem vor dem Hamburgischen Verfassungsgericht erfolgreich verfochten hatte (was im Herbst 1993 zum Verdruss der bis dahin allein regierenden SPD Neuwahlen nach sich gezogen hatte; die STATT-Partei als Mitregent präsentierte dann zunächst den parteilosen Klaus Hardraht, später den ebenfalls parteilosen Wolfgang Hoffmann-Riem als ihre Justizsenatoren) – passte einfach nicht in das links/rechts-Schema, während die spätere Schill-Partei sich selbst als ausgesprochen „rechtspräsentierte und von diesem Ruf sogar zu leben und zu überleben hoffte.

[9] Dass diese Grenzen, soweit strafrechtlich, an sich schon „gegen Rechts“ gezogen sind, steht auf einem Blatt für sich und war nicht das Thema des Abends, vgl. dazu etwa Poscher, Rechtsgrundlagen gegen rechtsextremistische Versammlungen, NJW 2005, 1316; Bertram: Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungsnovelle, NJW 2005, 1476

 

[10] Zur Kontroverse zwischen der 1. Kammer des 1. Senats und dem OVG Münster vgl. NJW 2001, 2069 ff, 2111 ff; mit Lit.-Hinweisen ausführlich dazu, freilich als Partei in eigener Sache, PräsOVG Michael Bertrams: Demonstrationsfreiheit für Neonazis? in: Arndt-Festschrift 2002, S.19 ff.; Hoffmann-Riem, aaO.
(oben Anm. 2), S. 2780 mit Fn. 12.

 

[11] vgl. z.B. Benda NJW 2001, 2947: Kammermusik schrill; ebenso Battis/Grigoleit,  NJW 2001, 2051

 

[12] NJW 2004, 2814

 

[13] so bei der Sachverständigenanhörung des Innenausschusses, die am 07.03.2005 der Änderung des § 130 StGB vorausgegangen war (vgl. Protokoll der 56. Sitzung des Innenausschusses des BT Nr. 15/56), in der Battis die Abgeordneten glauben machen wollte, der Senat habe endlich aufgeräumt mit den „merkwürdigen“, „falschen“, „unsinnigen“ Beschlüssen der Kammer (aaO. S. 8 f., 42, 50); dem sind insb. Poscher und Rühl sowie der Abg. Wiefelspütz mit guten Gründen entgegengetreten (aaO., S. 35 f, 64, 26 f); zum Ganzen früher schon Poscher: Die Entwicklung des Versammlungsrechts 2000-2004, NJW 2004, 422 (426 re.):

 

[14] mit ca. 30% etwa zehnmal so oft wie sonst bei Verfassungsbeschwerden: Hoffmann-Riem, aaO. (Fußn. 2), Ziff. V. (S. 2779)

 

[15] Hoffmann-Riem, aaO. (Fußn. 2), Ziff. V. (S. 2780)

 

[16] vgl. dazu etwa Brugger: Schutz oder Verbot der aggressiven Rede? (Amerika) in: Jahrbuch des Öffentl. Rechts der Gegenwart, 2004, 513 ff.

 

[17] In der gesellschaftlichen Praxis der USA scheinen die Regularien der „political correctness“ nachhaltig in die Tiefe und Breite zu wirken (zum aktuellen Stand der Dinge vgl. etwa Ingo Pommering: Historische Entwicklung der Political Correctness in Amerika in „Freiheit der Wissenschaft“, Heft 1 / 2006, S. 4-11, mit div. Quellen auch aus dem US-Hochschulbereich). Was auf dieser Ebene abläuft, steht substanziell zwar in krassem Widerspruch zu Verfassungsprinzipien, bleibt aber wohl deshalb rechtlich unausgetragen, weil die jeweils Beteiligten (aus unterschiedlichen Motiven) den juristischen Streit vermeiden wollen.

 

[18] Unlängst ließ sich die Problematik an einem praktischen Fall studieren: Die Hamburger NPD hatte für den 10.02. eine Kundgebung „Kein Multikulti in Bergedorf“ angemeldet, die gegen den (in Bergedorf diskutierten) Bau einer Moschee Stellung beziehen wollte. Die Innenbehörde verbot das: Zwar gäbe es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Veranstalter selbst sich durch Parolen oder Reden strafbar machen würden; es bestehe aber die Gefahr, dass „weniger wortgewandte Anhänger“ die Grenze nicht wahren würden. Das VG hob das Verbot auf, das OVG bestätigte die Entscheidung (vgl. Bergedorfer Zeitung vom 04.01., 24.01.). Die rechtlich zugelassene Kundgebung fand dann zwar formal statt, wurde aber faktisch - „gesellschaftlich“! - verhindert: über 1000 Gegendemonstranten sorgten dafür, dass die knapp 40 angereisten Demonstranten kaum zu besichtigen, geschweige denn zu vernehmen waren. Starke Polizeikräfte waren damit beschäftigt, die kleine Gruppe - trotziger oder verängstigter - Demonstranten zu schützen; ganz Bergedorf schwamm sozusagen im wogenden Rhythmus der Rufe „Nazis raus, Nazis raus!!“, im schweren Läuten der Kirchglocken, des alles übertönenden Gegenprotests; die Demonstranten zogen dann ab – ungehört und vorzeitig (vgl. BZ 10.02. und 11.02.2007). Man mochte das als „Sieg aller demokratischen Kräfte“ feiern; ein Sieg der Meinungsfreiheit war das aber nicht gewesen.